Trauerspiel
Frau Beierlein schauten sich an. Schließlich war es wieder Dr. Kleinknecht, der antwortete. «Wir haben Neustädter nicht angezeigt. Wir wollten ihm eine Chance lassen. Ein Prozess hätte schließlich seine endgültige Entfernung aus dem Dienst bedeutet, dazu das zu erwartende öffentliche Interesse, das ihm gewiss geschadet hätte. Im Gespräch mit ihm sind wir übereingekommen, dass er sich krankschreiben lässt und dann nach einer neuen Aufgabe an einer anderen Schule sucht.»
Arne war verärgert. «An dieser Schule wäre man ganz ahnungslos gewesen und Herr Neustädter hätte sein unseliges Treiben weiter fortsetzen können!»
Dr. Kleinknecht war die Sache sichtlich unangenehm. «Wir haben fest damit gerechnet, dass Neustädter sein Verhalten ändert, nachdem er diesen Warnschuss bekommen hatte.»
Tanja blieb nachdenklich. «Was hat Neustädter selbst eigentlich zu den Vorwürfen gesagt?»
Frau Beierlein schaltete sich wieder in das Gespräch ein. «Ich war dabei, als Herr Dr. Kleinknecht mit dem Kollegen Neustädter gesprochen hat. Schließlich bin ich im Betriebsrat und Julia war in meiner Klasse. Zunächst einmal hat Dr. Kleinknecht ihn mit den Anschuldigungen kon frontiert und gleichzeitig angedeutet, dass Neustädter, falls er tatsächlich so gehandelt hätte, sich erst einmal krankschreiben und dann anderweitig bewerben könne. Neustädter hat alle Vorwürfe abgestritten und doch sofort dem Vorschlag von Dr. Kleinknecht zugestimmt, sich krankschreiben zu lassen. Wir haben das so interpretiert, dass er sich stillschweigend schuldig bekennt.»
Tanja tippte mit ihrem Stift auf ihren Block. «Welche Zeugen hatten Sie denn außer Julia?»
Wieder schauten sich Dr. Kleinknecht und Frau Beierlein an. «Wir hatten nur Julias Aussage – wenn man einmal von diesem Anruf absieht, der die ganze Sache ins Rollen brachte.»
Arne war erstaunt: «Welcher Anruf?»
«Wir bekamen einen anonymen Anruf, in dem Neustädter beschuldigt wurde, sexuell übergriffig zu sein. Julia wurde als Zeugin dafür benannt.»
Tanja war jetzt völlig überrascht. «Wie ist die Angelegenheit dann weiter verfolgt worden?»
Dr. Kleinknecht räusperte sich. «Gemeinsam mit der Kollegin Beierlein habe ich daraufhin mit Julia gesprochen. Es war ja eine delikate Angelegenheit.»
Arne fragte: «War Julia selbst eigentlich auch betroffen? Ich meine, hat sie nur für andere gesprochen, oder hat sie selbst auch erlebt, dass sich Neustädter ihr unsittlich genähert hat?»
Frau Beierlein schaute erstaunt. «Julia war auch betroffen. Sie hat mehrere E-Mails bekommen, in denen Neustädter ihr unsittliche Anträge gemacht hat.»
«Und woher wusste sie, dass die Nachrichten von Neustädter kamen?»
Frau Beierlein setzte ihre Brille ab und fixierte Arne wie ein lästiges Insekt. «Neustädter hatte mit seinem Namen unterschrieben. Eigentlich logisch, er wollte ja auch etwas von ihr. Als wir dann weiter gefragt haben, gab sie zu, dass E-Mails an sie weitergeleitet wurden, in denen Neustädter andere Mädchen belästigte. Und sie bekam mehrere EMails, in denen Mädchen ihr anonym und unter dem Siegel der Verschwiegenheit schrieben, dass Neustädter übergriffig geworden sei.»
Tanja konnte es nicht fassen. «Diese vagen Anhaltspunkte haben Ihnen ausgereicht?»
Dr. Kleinknecht räusperte sich. «Nach diesem Anruf mussten wir schließlich nachforschen. Julia war für ihre Aufrichtigkeit bekannt. Auch dafür, dass sie sich mutig für andere einsetzte. Was sie schilderte, wirkte absolut ehrlich. Mich persönlich hat auch überzeugt, dass sie eigentlich gar nichts erzählen wollte und gedrängt werden musste, wirklich alles, was sie wusste, zu berichten. Irgendwie war ihr das nicht recht, sie war ganz entsetzt, dass wir davon Kenntnis bekommen hatten und versuchte, Neustädter zu entschuldigen und die Sache herunterzuspielen. Sie reagierte, wie Missbrauchsopfer üblicherweise reagieren – jedenfalls habe ich das in unserer schulinternen Fortbildung so gelernt. Und schließlich waren wir ja nicht vor Gericht.» Dr. Kleinknecht räusperte sich wieder.
Arne nickte. «Vor Gericht hätte Neustädter vielleicht bessere Chancen gehabt. Ich könnte mir vorstellen, dass seine Frau das auch so gesehen hat.»
Frau Beierlein wandte ein: «Aber warum hat sich Neustädter dann nicht mehr verteidigt?»
Tanja tippte mit dem Kugelschreiber in Richtung der beiden Lehrkräfte: «Weil er gespürt hat, dass Sie ihn bereits verurteilt hatten? Weil er depressiv war?
Weitere Kostenlose Bücher