Trauerspiel
Frau Beierlein, die Stammkursleiterin, saß ebenfalls mit am Tisch. Dr. Kleinknecht war ein großer, schwerer Mann, der seinen kräftigen Haar- und Bartwuchs nur mühsam im Zaum halten konnte. Arne fand, dass der Direktor fast besser mit Holzfällerhemd und Axt in kanadische Wälder passen würde als in das Direktorenzimmer eines renommierten Mainzer Gymnasiums. In welchem Fach der Direktor wohl promoviert hatte? Biologie bestimmt! Oberstudienrätin Frau Regina Beierlein dagegen war eine dürre, spitznasige Mittfünfzigerin, die unzufrieden und bissig in die Runde blickte. «Bei der möchte ich nicht im Unterricht sitzen», dachte Tanja. «Aber vielleicht kann sie uns gut weiterhelfen, sie ist der Typ, der alles sieht – zum Leidwesen ihrer Schüler.» In der Tat bewies Frau Renate Beierlein eine erstaunlich genaue Beobachtungsgabe.
«Julia war eine ausgezeichnete Schülerin. Aber in der letzten Zeit hat ihre Leistung nachgelassen. Sie war in Gedanken einfach nicht richtig bei der Sache. Erst habe ich gedacht, das hängt mit ihrem Engagement beim Theater zusammen, aber mir schien sie zugleich auch etwas traurig zu sein, ja manchmal kam es mir so vor, als ob sie von einer Last regelrecht erdrückt würde und nur mühsam die Fassung bewahrte. Ich habe versucht, sie darauf anzusprechen, auch, weil ich nicht wollte, dass sie ihre Abiturnote gefährdet – in diesem Schuljahr zählt ja schon alles mit –, aber mit wenig Erfolg. Julia hat sich mit Kopfschmerzen herausgeredet und mir mit Sicherheit nicht erzählt, was sie bedrückte. Was mich beschäftigt hat – das passte so gar nicht zu Julias aufrichtiger und ehrlicher Art, dass sie etwas in sich hineinfraß.»
Dr. Kleinknecht nickte zustimmend. «In der Tat, Julia war bekannt dafür, dass sie sich nicht scheute, mutig für ihre Meinung einzutreten, auch wenn es nicht ihre Interessen, sondern die anderer Schüler betraf. Sie war zwar zurückhaltend, aber was Gerechtigkeit anging – da kam sie aus sich heraus. Merkwürdig, dass sie so verschlossen war in der letzten Zeit.»
Arne fragte nach. «Gab es in der letzten Zeit ein ungewöhnliches Ereignis an ihrer Schule, das Sie vielleicht gar nicht in Verbindung zu Julias Verhalten gebracht haben?»
Dr. Kleinknecht und Frau Beierlein schauten sich an. Kleinknecht zögerte. «Nun», antwortete er schließlich, «ich glaube zwar tatsächlich nicht, dass das mit Julias Ermordung zusammenhängt. Aber wir waren gezwungen, uns von einer Lehrkraft zu trennen. Herr Neustädter hat diese Entscheidung der Schulleitung offenbar nicht verkraftet und sich bedauerlicherweise vor drei Wochen das Leben genommen.» Dr. Kleinknecht schwieg.
«Was hatte denn zu Herrn Neustädters Entlassung geführt?», fragte Arne.
Wieder zögerte Kleinknecht. «Herr Neustädter war Sportlehrer und hat sich in unzulässiger Weise Schülerinnen genähert.»
«Gehörte auch Julia zu diesen Schülerinnen?»
Frau Beierlein nickte. «Ja, sie gehörte dazu.»
Dr. Kleinknecht zeichnete mit seinem Kugelschreiber mechanisch Spiralen auf ein Blatt Papier. «Es war Julia, die uns die Übergriffe bestätigt hat. Die anderen Mädchen hatten sich nicht getraut. Aber das kann doch nicht mit Julias Ermordung zusammenhängen. Neustädter ist tot!»
Arne zückte seinen Block. «Er ist tot, aber es gibt vielleicht Menschen, die ihm nahe gestanden haben. Wer ist der nächste Angehörige?»
Dr. Kleinknecht zuckte resigniert mit den Schultern. «Neustädter hinterlässt seine Frau, sie hat einen Doppelnamen und heißt, warten Sie mal, ich komme gleich drauf…»
«Dorn-Neustädter», half Frau Beierlein aus.
«Ja, äh, danke Frau Kollegin. Also: Dorn-Neustädter. Die Adresse lasse ich ihnen heraussuchen. Die Beerdigung von Neustädter war übrigens eine sehr unerfreuliche Angelegenheit. Die Witwe hatte sich unsere Anwesenheit verbeten und wollte nicht einmal, dass wir einen Kranz oder ähnliches schicken, das wurde uns vom Bestattungsinstitut mitgeteilt. Das ist bis zu einem gewissen Grad natürlich verständlich, aber dennoch bedauerlich. Es war ja Neustädters Verfehlung, nicht unsere. Es könnte natürlich sein, dass Frau Dorn-Neustädter die Verantwortung ihres Mannes so nicht sehen konnte.»
«So dass sie», ergänzte Tanja, «diese Verantwortung möglicherweise bei der Person gesucht hat, die ihren Mann in Verdacht gebracht hat. Haben Sie Herrn Neustädter eigentlich angezeigt? Ich meine, ist der Vorfall offiziell untersucht worden?»
Dr. Kleinknecht und
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