Trauerspiel
Weil er ein schwacher Mensch war? Wer weiß. Aber ich bin mir nicht sicher, ob er tatsächlich das getan hat, wofür sie ihn beschuldigt haben.»
* * *
Arne schüttelte sich, als sie beide die Schule verlassen hatten.
«Komm, ich brauche etwas frische Luft. Was hältst du von ein paar Schritten im Volkspark?»
Tanja nickte zustimmend. «Gute Idee. Lass uns hinfahren.»
Kaum eine Viertelstunde später gingen die beiden neben einander durch die grüne Lunge von Mainz und schwiegen erst einmal einträchtig.
Nach einer Weile meinte Tanja: «Glaubst du, dass Julia die Sache mit dem Lehrer nur erfunden hat?»
Arne kaute an seiner Unterlippe. «Das könnte sein, aber das glaube ich, nach allem, was wir von ihr erfahren haben, eigentlich nicht. Es ist ja gut möglich, dass es so war, wie sie es erzählt hat. Ich bin sogar sicher, dass Julia diese Mails bekommen hat und ihr darin von Übergriffen Neustädters erzählt wurde.»
Tanja kickte einen kleinen Kiesel vor sich her. «Und stimmte das, was ihr erzählt wurde?»
Arne dachte nach. «Es ist ihr erzählt worden, aber ob die, die es ihr erzählt haben, tatsächlich belästigt wurden, das konnte Julia natürlich nicht überprüfen. Es könnte sein, dass die anderen Mädchen eine Intrige gegen Neustädter überlegt und Julia dafür missbraucht haben, ihn bei der Schulleitung anzuschwärzen. Sie war ja bekannt für ihren Einsatz für andere. Überhaupt ist ganz offen, welche Mäd chen diese Mails geschickt haben, sie haben sie schließlich über Deckadressen geschickt.»
Tanja nickte. «Es könnte sein, dass Julia in der letzten Zeit ihres Lebens bedrückt war, weil sie ahnte, was ihre Aussage, die sie eigentlich noch nicht einmal machen wollte, ausgelöst hatte.»
Arne war immer noch betroffen. «Sonst beschweren wir uns ja immer, dass alle wegsehen, wenn es um sexuellen Missbrauch geht. Aber hier waren die Verantwortlichen doch sehr schnell in ihrem Urteil.»
«Wer weiß, warum dieser Lehrer der Regelung mit der Krankschreibung sofort zugestimmt hat», sagte Tanja, «vielleicht war ja wirklich was dran an den Vorwürfen. Oder er war tatsächlich krank und konnte sich nicht wehren. Wie auch immer, wir müssen mit seiner Witwe sprechen. Und dabei nicht außer Acht lassen, dass sie ab sofort zu unseren Verdächtigen zählt. Sie hatte ein Motiv, sich an Julia zu rächen.» Arne scharrte mit den Füßen im Gras. «Stell dir vor, es war tatsächlich eine Intrige, die Julia für ihre Interessen eingespannt hat. Wer hat diese Intrige gesponnen? Und wer sollte getroffen werden? Vielleicht war ja Julia diejenige, die beschädigt werden sollte? Und die Intrigenspinner haben nicht damit gerechnet, dass Neustädter gleich einknicken würde oder das bewusst oder billigend in Kauf genommen.»
Tanja stöhnte. «Das klingt ja grauenhaft, wenn das wahr wäre. Was ist das für ein Mensch, der hinter solchen Aktionen steckt?»
Arne nickte. «Ein perfider Intrigant. Heute Abend gehe ich mit Susanne in die Oper. Und wenn er nicht von Shakespeare erfunden wäre, dann könnte ich dir sofort einen Verdächtigen präsentieren.»
«Wen denn?», fragte Tanja neugierig.
«Jago», antwortete Arne.
«Kenne ich den?», fragte Tanja.
«Nein», antwortete Arne. «Aber du hast auch nichts verpasst. Es war dem Vernehmen nach ziemlich ungesund, ihn zu kennen.»
* * *
Susanne stand vor ihrem Kleiderschrank und hatte nichts anzuziehen. Jedenfalls kam es ihr so vor. Drei Meter Stoff auf Bügeln bauten sich schweigend vor ihr auf und gaben ihr keine Antwort auf die Frage: Was sollte sie heute Abend anziehen? Vielleicht wäre es einfacher, einen Blick auf ihre Schuhregale zu werfen und zuerst die Pumps oder Sandalen und dann das Outfit auszuwählen? Susanne ging zu den Ivar-Regalen, die ihre Schuhsammlung bargen. Violettes Lackleder oder goldene Pumps? Rote Sandalen mit Keilsohle oder schwarze, kniehohe Stiefel? Susanne sank auf einen Sessel. Wenn es so weiter ging, musste sie nackt mit Arne in die Oper, bekleidet nur mit Pumps oder Sandalen. Susanne sah die Schlagzeilen vor sich: «Nackte Pfarrerin trug nur Sandalen», «Die Mörderpfarrerin hatte nur ihre Pumps an». Das durfte sie Arne nicht antun. Er würde sie in exakt einer halben Stunde abholen, um mit ihr eine Aufführung von Otello anzuschauen. Arne hatte neben dem künstlerischen Interesse auch ein berufliches, er wollte sich ein Bild davon machen, was Julia in den letzten Monaten ihres Lebens beschäftigt hatte. Susanne wiederum ging
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