Trauerspiel
sprechen, und auf keinen Fall sollte sie ihren Verdacht auch noch mit einem Beweis unterfüttern dürfen. Ganz klar: die Nichte muss sofort sterben.»
Berger nickte. «Manchmal gibt es im Leben keine Alternative!»
«In der Tat wird sich das unser Journalist ganz genau überlegt haben. Schließlich ist es jetzt schwierig oder unmöglich, einen Selbstmord vorzutäuschen, die ganze mühsame Vorarbeit ist vergebens gewesen. Das wird ihn schon geärgert haben, all die verschwendete Energie, einmal ganz abgesehen von den Kosten.»
Bergers blickte Susanne inzwischen anerkennend an. «Ich habe den Eindruck, ich habe Sie unterschätzt. Sie haben ja tatsächlich ein gutes Einfühlungs- und Kombinationsvermögen, Frau Hertz.»
«Aus Ihrem Mund ist das ein besonderes Kompliment», antwortete Susanne. «Doch wir wollen uns von Höflichkeitsbekundungen nicht ablenken lassen. Unser Journalist hat sich schließlich auch nicht ablenken lassen. Entschlossen analysiert er seine Chancen und Möglichkeiten und handelt kühl und überlegt. Die Nichte wird sich noch am selben Abend auf den Weg zu ihrer Pfarrerin machen, dort darf sie nicht ankommen. Vielleicht hat er noch die Fahrradspeiche…»
«Man soll nichts wegwerfen, was man noch gebrauchen kann», warf Berger ein, und Susanne spürte ein kaltes Frösteln unter der Haut. Sie war plötzlich fast sicher, dass die Speiche in diesem Raum war, und es kostete sie nahezu übermenschliche Kräfte, nicht sofort vom Stuhl zu springen und den Raum fluchtartig zu verlassen.
«Der Journalist wählt einen Platz, an dem seine Nichte vorbeikommen muss und der ihm ein schnelles Beiseiteschaffen der Leiche ermöglicht. Ich erspare Ihnen die Details, Sie haben ja auch Phantasie.»
Berger stimmte lächelnd zu.
«Als das junge Mädchen tot ist, läuft er umgehend zu ihrem Haus, schleicht in ihr Zimmer, sucht und findet ihr Tagebuch – vielleicht weiß er auch schon aus heimlicher Beobachtung, wo sie es aufbewahrt – und reißt die letzten Seiten heraus, auf denen die Nichte ihren furchtbaren Verdacht festgehalten hat. Dann schleicht er sich wieder aus dem Haus, fährt in seine Wohnung und …» Susanne überlegte, «… legt sich schlafen, denn er weiß, dass er anstrengende Zeiten vor sich hat.»
Berger schaute sie bewundernd an. «Unglaublich, Frau Hertz, was Sie sich da so zusammenreimen. Dieser Journalist, er müsste tollkühn sein, genial und tollkühn, aber so könnte es funktioniert haben.»
Susanne war erschöpft. «Meine Überlegungen zu dem, was dann geschehen sein könnte, erspare ich Ihnen. Ich will Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Gewiss ist es für den Journalisten eine gewisse Befriedigung, dass seine Bemühungen um die seelische Zerrüttung seiner Nichte zumindest dazu führen, dass die Polizei verwirrt wird. Ja, und dann ergibt sich der perfekte Plan, den Mord an der Nichte zugleich dem Regisseur und der Pfarrerin in die Schuhe zu schieben. Der Regisseur findet eine Tüte mit Belastungsmaterial in seinem Auto und verhält sich erwartungsgemäß kopflos.»
Berger lächelte. «Erwartungsgemäß! Man sollte übrigens den eigenen Wagen immer sorgfältig abschließen …»
«Die Pfarrerin wird in eine Falle gelockt.»
Berger nickte. «Genial, nicht wahr!» Er stand auf. «Aber in der Tat ist meine Zeit begrenzt, da haben Sie recht. Es war ein Genuss, mit Ihnen zu plaudern. Wie freundlich von Ihnen, mir so viel Aufmerksamkeit zu widmen. Bedauerlich, dass Sie alles, was Sie da zusammenphantasiert haben, nicht beweisen können. Sehr schade. So werden wohl die Morde an meiner armen Mutter und meiner bedauernswerten Nichte niemals aufgeklärt werden. Wirklich schade.»
Susanne war auch aufgestanden. «Beweisen kann ich das alles nicht, in der Tat. Doch ich bin auch nicht gekommen, um Ihr Geständnis zu hören. Ich bin vielmehr gekommen, um Sie zu informieren. Übermorgen, in meiner Predigt, werde ich der Gemeinde mitteilen, dass Sie der Mörder von Julia und Elisabeth Berger sind. Und ich werde allen genau das erzählen, was ich Ihnen eben erzählt habe. Mit einem Unterschied: ich werde den Namen des Journalisten nennen: Ihren Namen.»
Berger lächelte immer noch, aber sein Lächeln wirkte plötzlich etwas künstlich. «Sie belieben zu scherzen.»
Susanne winkte ab. «Keineswegs. Am Sonntag werden alle in der Kirche sein: Ihre Schwester, Ihr Schwager, die Mitschüler von Julia, die Lehrerinnen und Lehrer von Julias Schule und die Leute vom Theater, Julias
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