Trauerweiden
ihr das leider überhaupt nichts half. Obwohl, vielleicht würde die Uschi ihr die Filiale ja jetzt geben, wer weiß. Aber sie wusste gar nicht, ob sie überhaupt noch wollte. Eigentlich war sie zu stolz. Trotzdem würde sie wohl keine andere Wahl haben, wenn sie nicht noch bis 40 in ihrem Jugendzimmer unter dem Dach ihrer Eltern wohnen wollte. Sie kontrollierte, ob der Kleber perfekt aufgetragen war, denn alles musste perfekt sein. Zufrieden nickte sie. Dann nahm sie das bereitgelegte Album, in das sie alle Fotos von sich und ihrem Pferd Luna klebte. Katja Blum schlug eine neue Seite auf und klebte die Traueranzeige hinein. Ganz gerade, nur mit Augenmaß. Sie strich noch eine Falte im Papier glatt, dann endlich war es perfekt.
Der Ort, in dem dieses »Blootzessen« stattfinden sollte, hieß Mainkling. Lisa hatte diesen Namen noch nie zuvor gehört, obwohl sie nun schon fast ein Dreivierteljahr in Crailsheim lebte und Heiko ihr versicherte, dass das ganz in der Nähe sei, nicht weiter als 15 Kilometer entfernt. Aber das war ihr schon öfter so gegangen, das war hier anscheinend normal. Die Quote der Dörfer mit unter 500, oft auch weniger als 100 Einwohnern war in dieser Gegend nicht unerheblich. Auch Mainkling war ein solch kleines Dorf, wie Lisa jetzt schon, da sie den Serpentinen folgten, die sich den Hügel hochschlängelten, erkennen konnte. Es war ein schöner Herbsttag, wohl einer der allerletzten, an dem man Cabrio fahren konnte. Heiko hatte seine coole Cabriosonnenbrille aufgesetzt, und an Lisas Pferdeschwanz zerrte der Fahrtwind. Die Obstbäume am Straßenrand waren immer noch schwer beladen mit Mostbirnen und kleinen, roten Äpfeln, aber die Blätter waren nun alle bunt oder sogar schon braun. Über allem spannte sich ein strahlend blauer Spätsommerhimmel, und die Landschaft war in dieses goldene, sehr steile Licht getaucht, das es nur im Herbst gab.
»Und was ist jetzt nochmal Blohts?«, wollte Lisa wissen.
»Blootz«, verbesserte Heiko, »So ähnlich wie Flammkuchen, nur um Klassen besser.«
Sie passierten ein Feld, und da sah Lisa etwas, was sie vorher noch nie gesehen hatte, zumindest nicht in dieser Menge: Störche. Nicht einer, nicht zwei, sondern sieben, acht, zehn Störche! Sie stieß Heiko an und wies auf die rotschnabeligen Tiere. »Ja, die sammeln sich hier im September immer, bevor sie abfliegen. Im Dorf auch«, gab ihr Freund Auskunft. Lisa starrte fassungslos auf das Naturschauspiel. Sie nahmen die letzte Biegung und erreichten die Kuppe des Hügels, auf dem Mainkling lag. Hier oben war das Licht noch strahlender, noch gleißender. Und ein bisschen fühlte sich Lisa an die Schlussszene aus Hitchcocks »Die Vögel« erinnert. Gut, zugegeben, es waren nicht so viele Vögel wie in dem Filmklassiker. Und es waren auch keine Raben, sondern Störche, was die gesamte Szenerie aber nur noch surrealer wirken ließ. Auf einem Feld am Ortseingang tummelten sich mindestens zwanzig der großen Tiere. Und obwohl sie einigen Abstand zu den Menschen hielten, waren sie doch nicht über Gebühr scheu, was man unter anderem daran erkennen konnte, dass sie auch die Wohnhäuser annektiert hatten. Auf jedem Dach saßen mindestens drei Störche, teils geduckt vor sich hin dösend auf dem Giebel, teils staksten sie schwerfällig und bedächtig flatternd auf den Ziegeln umher.
»Wahnsinn«, entfuhr es Lisa.
»Was ist Wahnsinn?«
»Na, die Störche.«
»Ach so, das, ja ja, schaut schon toll aus, gell?«
Obwohl das Dorf eigentlich nur aus einer Hauptstraße und wenigen davon abzweigenden Sträßchen bestand, war die Bevölkerungsdichte an diesem Tag nicht nur wegen der Storcheninvasion sehr hoch. Denn die schienen nicht die einzigen Gäste zu sein. Falls nämlich nicht jeder Einwohner von Mainkling drei oder vier fahrbare Untersätze besaß, standen hier ganz eindeutig zu viele Autos am Straßenrand.
»Und warum stehen hier die ganzen Autos?«
»Blootzessen«, informierte Heiko knapp und parkte den Wagen neben einem Luxemburger Bratbirnenbaum. Als sie die Hauptstraße entlanggingen, kam Lisa sich tatsächlich ein bisschen vor wie Melanie Daniels in »Die Vögel«. Ein bisschen unheimlich war das schon. Gleichzeitig war es aber eine seltene Gelegenheit, die Tiere einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Heiko bückte sich plötzlich und hob etwas vom Boden auf. Er betrachtete den Fund kurz und reichte ihn dann seiner Freundin.
»Eine Feder?«, fragte Lisa. Ihr Freund wies mit dem Kopf auf die
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