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Trauerweiden

Trauerweiden

Titel: Trauerweiden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wildis Streng
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»suavemente« und »mas tierno«, was aber außer Lisa kein Mensch verstand. Heiko machte missmutig mit und verfluchte innerlich Eva, die ihm diesen Schwachsinn eingebrockt hatte.
     
    Jessicas Geliebter war heute mit dem Fahrrad unterwegs. Er hatte einfach raus müssen von zu Hause, er hatte es nicht mehr ausgehalten. Nun stand er hier, auf der Brücke, und machte eine Pause. Eigentlich hatte er zum Friedhof gewollt, aber er hatte im letzten Augenblick doch einen Rückzieher gemacht. Er traute sich nicht so recht. Und er hatte keine Lust, Florian über den Weg zu laufen. Er stützte sich auf das Brückengeländer und sah in das trübe Gewässer hinab. Eigentlich eine romantische Landschaft, wunderschön, und die Jessi hatte den Fluss geliebt. Sie waren sogar einmal an der Jagst gewesen, ein schöner Ausflug, etwas riskant, ja, aber trotzdem. Es war gut gegangen. Und genau wie hier hatten auch damals die Seerosen im Fluss geblüht, und die Trauerweiden hatten mit ihren Ästen das fließende Wasser gestreichelt, so zärtlich, wie er die Jessi immer gestreichelt hatte. Blutweiderich säumte das Ufer, das intensive Purpur leuchtete zum Geliebten hoch. Einer spontanen Eingebung folgend pflückte er einen Löwenzahn, der sich hier auf der Brücke durch den Asphalt gekämpft hatte. Er warf die Blüte ins Wasser und sah zu, wie sie von der trägen Strömung mitgenommen wurde. Genau so hatte auch die Jessi im Fluss getrieben, ganz genau so. Ihre Leiche. Ihr toter Körper. Nein. Das hier war kein Ort für ihn. Er trat in die Pedale, wendete und fuhr nach Hause.

Dienstag, 08. Oktober
    Simon hatte wieder den gleichen verklärten Gesichtsausdruck wie schon die Tage zuvor. Selig lächelnd gesellte er sich zu ihnen. Er legte eine Bäckertüte auf den Tisch und machte eine einladende Handbewegung. Heiko linste in die Tüte hinein. Mmmmmh! Horaffen. Frisch vom Kett.
    »Wie kommen wir denn dazu?«, fragte er.
    Simon grinste und sah dabei durchaus nicht uncharmant aus, wie Lisa fand.
    »Bin ainfach gut drauf«, sagte er also.
    Lisa schnappte sich einen Horaff und biss hinein. »Dann läuft es also gut mit deiner Regina, hm?«, vermutete sie.
    »Bäschtäns«, informierte Simon.
    »Was ist denn eigentlich mit dem Taxialibi?«, wollte Heiko wissen.
    »Ach so, ja, das hat sich bestätigt. Der Kerl hat gemeint, wenn es so wichtig sei, dürfe man nicht lügen.«
    »Wie edelmütig!«, spottete Lisa und fragte dann weiter: »Und, wo trefft ihr euch dann immer so?«
    Heiko nahm sich auch einen Horaff.
    »Och, in der Mitte meistens. Die ist ja von Ludwigsburg, da treffen wir uns maischtäns in Hall. Und dann gehen wir ins Ilge oder so. Kennt ihr das Ilge?«
    Heikos Horaff blieb auf dem Weg zum Mund stehen. Das Ilge! Wie hatte er nur so blind sein können. Wie von der Hummel gestochen sprang er auf und kramte in einer Schublade. Lisa und Simon sahen ihm fassungslos dabei zu.
    »Was ist denn jetzt passiert?«, wunderte sich Lisa.
    Heiko hatte den Kalender gefunden und blätterte wild. Dann deutete er auf die Stelle. »Hier«, triumphierte er. »Schrägstrich l g l. Kann das nicht auch Ilge heißen?« Er hielt den beiden anderen die Seite unter die Nase.
    »Klaro heißt das Ilge«, pflichtete ihm Simon bei.
    Mit Schwung klappte Heiko den Kalender zu. Endlich. Bald würde sich das Rätsel um diese Marianne klären. Mit etwas Glück zumindest.
     
    Das Ilge war nicht in Crailsheim. Das Ilge war in Schwäbisch Hall. Und obwohl es nicht groß war, war es das Kult-Cafe schlechthin. Während Simon anscheinend andauernd in Hall wegging, beschränkten sich Heikos Besuche der Nachbars-und Konkurrenzstadt von Crailsheim zumeist auf Saunagänge im Schenkenseebad mit anschließendem Pizzaessen. Mit Schwäbisch Hall war das so eine Sache. Seit jeher standen die beiden Städte in Konkurrenz zueinander. Nahezu gleich groß und gleich alt unterschieden sie sich trotzdem grundlegend voneinander: Während Crailsheim in den letzten Kriegstagen zu 92 Prozent zerstört worden war und daher architektonisch eher den zweifelhaften Charme der Fünfziger atmete, konnte Schwäbisch Hall mit einer schmucken Altstadt glänzen. Das lockte Touristen an, vereinzelt sogar Japanerbusse. Crailsheim wiederum bot bessere Voraussetzungen für die Industrie, lag zentraler, direkt an zwei Autobahnen, nicht in einer Kessellage wie Hall. Hall hatte den großen Kunstmäzen Reinhold Würth, der mal eben so eine kostenfreie Kunsthalle fürs Volk hingestellt hatte. Crailsheim hatte keinen

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