Traum ohne Wiederkehr
geöffnet, erwachte ihr Wissen darüber. Es war eine so völlig fremdartige Gabe, so ganz anders als alle, von denen sie als Tamisan wußte. Sie mußte tiefer in Tam-sins Gedächtnis dringen und mehr über diese Gabe einer anderen Rasse und Zeit herausfinden.
Ein heftiger Windstoß blies durch den Fensterschlitz. Hastig schob Kilwar den Schild davor.
»Und was für ein Sturm!« brummte er.
Aber Tam-sin dachte an einen Sturm, der sich innerhalb der Burg zusammenbraute und vielleicht noch viel heftiger werden mochte.
4.
Der Sturm tobte die ganze Nacht um die Felsenburg. Tam-sin wachte immer wieder auf und lauschte dem peitschenden Wind. Zweimal, während sie angespannt und zitternd auf dem Rücken lag, griff Kilwars Hand nach ihr, und sie fand Trost und Beruhigung in seiner Nähe und seiner Berührung.
Sie suchte in Tam-sins Erinnerung, um zu erfahren, welcher Art die Kräfte jener waren, deren Gestalt sie jetzt trug. Einmal war sie Träumerin gewesen; dann in einer anderen Welt, wo sie den Zorn der Oberkönigin auf sich herabbeschworen hatte, ein Mund Olavas; jetzt war sie eine Seesängerin, die die Fische ins Netz »sang«, und auch aus weiter Entfernung jegliches Schiff der Seekönige »sehen« konnte. In jedem Leben hatte sie Gaben, die über die üblichen hinausgingen.
Eine Seesängerin konnte einem Schiff mit ihrem Geist folgen, wenn sich jemand an Bord befand, mit dem sie verbunden war. Doch sie konnte ein Schiff nur finden, wenn diese Verbindung bestand. Jetzt brauchte sie Zeit, um aus der Tam-sin-Persönlichkeit zu lernen, was ihr für ihre Zwecke nun von Nutzen sein konnte.
»Lord«, flüsterte sie, »was glaubst du, liegt dieser Sache zugrunde?«
»Ich kann nur raten, aber das kannst du genausogut wie ich«, antwortete er, nicht weniger leise flüsternd als sie. »Aber es beunruhigt mich, daß das Siegel an der Ladeluke ein mir vertrautes Symbol ist.«
Er schwieg, und auch sie lag stumm mit dem Kopf auf seiner Schulter. Sie spürte, ebenso wie er, daß tödliche Gefahr vor ihnen lag.
Doch sie sprachen nicht mehr darüber. Und als das erste Grau des Morgens sich am Rand des Schildes abhob, den er vor das Fenster geschoben hatte, stand er auf und weckte sie dabei.
»Lord, laß mich mit dir kommen, wenn du dieses Geisterschiff suchst.«
»Du weißt, das kann ich nicht. Nach den Gesetzen dieses Volkes darf keine Frau irgendwohin mitgenommen werden, wo die Gefahr besteht, daß es zu einem Kampf kommen könnte.«
Das wußte auch Tam-sins Erinnerung. Doch allein der Gedanke, daß er sie jetzt verlassen würde, war unerträglich für sie. Hier allein zu sein …
Als Tam-sin sich erhob, um ihm in die Augen zu sehen, las sie aus seinem Gesicht, daß er nichts gegen die Sitten des Seevolks tun konnte oder wollte.
»Du weißt ja«, sagte sie, und ihre Lippen waren so steif, daß sie die Worte kaum zu formen vermochte, »daß, wenn dir etwas zustößt, während ich nicht in deiner Nähe bin, dieser Traum nie mehr abgebrochen werden kann.«
Kilwar nickte. »Das weiß ich. Aber es gibt eine andere Möglichkeit. Da ich hier bin, wer ich bin, muß ich diesen Weg gehen. Doch du bist eine Sängerin, du kannst eine Verbindung mit mir schaffen.«
»Das wohl, aber ich habe keine Macht, dir zu helfen, selbst wenn meine Gedanken deine ständig begleiten und ich erfahre, daß dir Schreckliches droht.«
Sie drehte sich um, weil sie nicht wollte, daß er las, was in ihrem Gesicht geschrieben stand. Sie konnte ihn von diesem Entschluß, dieser Sitte der Seekönige, nicht abbringen. Kilwar würde die Wellen reiten, sobald die Wogen sich nach dem Sturm beruhigt hatten. Und sie würde allein zurückbleiben – hier.
Und doch gelang es ihr, sich zu beherrschen und ihm äußerlich unbewegt nachzusehen, wie er an Bord seines Schlachtschiffs kletterte, wie seine Lehnsleute in ihren Schuppenpanzern und ihren, der See entrungenen Waffen ihm salutierten, als er an Deck stand. Und sie sah zu, wie die Vertäuung des Schiffes gelöst wurde und der Steuermann es durch den Kanal zur offenen See lenkte.
Der Sturm hatte sich ausgetobt. Die Adler waren im frühen Morgengrauen zurückgekehrt, jeder mit einer Botschaft. Das Geisterschiff war von den Männern von Lockriss gesichtet worden, und sie hatten vier Mann daran verloren. Lochack dagegen wußte nichts von dem Schiff. Beide Lords sagten jedoch zu, sich mit Kilwar bei den Riffen zu treffen.
Tam-sin schaute dem Schiff mit ihrem Lord an Bord nach, als es die Hafenhöhle
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