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Trauma

Trauma

Titel: Trauma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
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teilten Dad und ich den Vorraum mit anderen gequälten Menschen. Dann waren wir allein.
    Lorrie war exakt um 20.12 Uhr eingeliefert worden. Um halb neun schickte Dr. Wayne Cornell, der operierende Chirurg, eine Schwester zu uns.
    Als Erstes erklärte sie uns, Dr. Cornell sei nicht nur für allgemeine
Chirurgie qualifiziert, er habe sich auf Magen-Darm-Operationen spezialisiert. Er sei ein ausgezeichneter Arzt, und auch das Team, das ihn unterstütze, sei »fabelhaft«.
    Diesen freundlich gemeinten Werbetext hatte ich gar nicht nötig. Um nicht völlig auszurasten, hatte ich mir bereits erfolgreich eingeredet, Dr. Cornell sei ein Genie mit Händen, die so empfindlich waren wie die der größten Konzertpianisten.
    Laut der Schwester war Lorrie zwar weiterhin in kritischem Zustand, doch die Operation verlief gut. Allerdings würde es eine lange Nacht werden. Soweit Dr. Cornell es beurteilen konnte, war er bestimmt erst zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens fertig.
    Lorrie hatte zwei Kugeln in den Leib bekommen, und die hatten viel Schaden angerichtet.
    In jenem Augenblick wollte ich keine weiteren Einzelheiten hören. Ich konnte sie nicht ertragen.
    Die Schwester ging davon.
    Nun, da nur noch ich und Dad dasaßen, kam der kleine Raum mir vor wie ein Flugzeughangar.
    »Sie schafft es«, sagte Dad. »Ganz bestimmt.«
    Ich konnte einfach nicht sitzen bleiben. Musste mich bewegen, um nervöse Energie loszuwerden.
    Es war Sonntag, der zweiundzwanzigste Dezember, keines der fünf Daten auf der Rückseite der Freikarte. Um Mitternacht aber begann der dritte Tag auf der Liste meines Großvaters.
    Was konnte nach Mitternacht geschehen, was schlimmer war als das, was schon am Abend geschehen war?
    Ich gab vor, die Antwort nicht zu wissen. Verdrängte die gefährliche Frage aus meinem Hirn.
    Obwohl ich aufgestanden war, um auf und ab zu schreiten, stellte ich plötzlich fest, dass ich an einem der beiden Fenster stand. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich schon da war.

    »Jimmy?«, hörte ich Dads Stimme hinter mir.
    Als ich nicht antwortete, legte er mir die Hand auf die Schulter.
    »Mein Sohn«, sagte er.
    Ich drehte mich zu ihm um. Dann tat ich etwas, was ich nicht getan hatte, seit ich ein kleines Kind gewesen war: Ich weinte in den Armen meines Vaters.

50
    Kurz vor Mitternacht kam meine Mutter mit einer großen Blechschachtel voll selbst gemachtem Gebäck: Zitronenplätzchen, Madeleines, schottisches Shortbread und chinesische Sesamriegel.
    Hinter ihr kam Oma in einem gelben Schneeanzug. Sie trug zwei große Thermoskannen mit unserer Lieblingsmischung aus Kolumbien.
    Natürlich gab es im Krankenhaus Snacks und Kaffee aus dem Automaten. Wir waren jedoch selbst in einer Krise keine Familie, die sich mittels Konserven ernährte.
    Annie, Lucy und Andy waren ins Haus meiner Eltern gebracht worden. Dort standen sie unter dem Schutz einer ganzen Phalanx vertrauenswürdiger Nachbarn.
    Mom hatte auch Sachen zum Umziehen für mich mitgebracht. Meine Schuhe und Hosen und mein Hemd waren steif von getrocknetem Blut.
    »Schatz, mach dich doch im Herrenklo dort im Flur ein wenig sauber«, sagte sie. »Dann fühlst du dich bestimmt gleich besser.«
    Den Raum lange genug zu verlassen, um mich zu waschen und umzuziehen, kam mir wie eine Pflichtverletzung vor. Wenn ich das tat, würde ich Lorrie im Stich lassen. Deshalb wollte ich nicht weg von hier.
    Bevor Mom das Haus verlassen hatte, hatte sie ihr Lieblingsfoto von Lorrie hervorgeholt und es in einen kleinen Rahmen gesteckt. Nun saß sie da, hielt es im Schoß und betrachtete es wie
einen Talisman, der die volle Genesung ihrer Schwiegertochter garantierte.
    Mein Vater setzte sich neben meine Mutter, nahm ihre Hand und hielt sie fest. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie nickte und streichelte das Foto mit einem Finger, als wollte sie Lorrie das Haar glätten.
    Behutsam nahm Oma mir die Halskette aus der Hand, umschloss sie mit beiden Händen, um sie zu wärmen, und flüsterte: »Geh schon, Jimmy. So soll Lorrie dich doch bestimmt nicht sehen.«
    Ich kam zu dem Schluss, dass es keine Pflichtverletzung war, wenn diese drei Wache hielten.
    Im der Toilette zögerte ich, mir die Hände zu waschen, aus Angst, mit Lorries Blut auch sie selbst zu entfernen.
    Wir fürchten unseren eigenen Tod nicht so sehr wie den der Menschen, die wir lieben. Droht uns ein solcher Verlust, dann werden wir ein wenig verrückt, weil wir ihn leugnen wollen.
    Als ich zur Intensivstation zurückgekehrt war,

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