Trauma
der Polizei kommt, und Sie haben nur eine Geisel, wie wollen Sie die Cops dann überzeugen, dass Sie die Geisel tatsächlich umbringen würden und nicht nur bluffen?«
»Wie denn?«, fragten er und ich gleichzeitig.
»Das würde Ihnen einfach nicht gelingen«, sagte sie, »jedenfalls nicht, ohne dass der Schatten eines Zweifels bliebe. Deshalb würde man womöglich versuchen, das Gebäude zu stürmen, und dann wären Sie und die Geisel tot.«
»Ich kann ziemlich überzeugend wirken«, versicherte der Mörder ihr in einem sanfteren Tonfall, aus dem abzulesen war, dass er eventuell überlegte, sie um ein Rendezvous zu bitten.
»Wenn ich ein Cop wäre, würde ich Ihnen nicht mal einen Augenblick glauben. Sie sind viel zu süß, um ein Mörder zu sein.« An mich gewandt, fügte sie hinzu: »Ist er nicht zu süß?«
Fast hätte ich gesagt, dass ich ihn eigentlich nicht süß fand. Daran kann man sehen, was ich mit der Bemerkung gemeint habe, sie sei in der Lage gewesen, jeden Mann in einen dümmlichen Lustmolch zu verwandeln.
»Aber wenn Sie zwei Geiseln hätten«, fuhr sie fort, »dann könnten Sie eine umbringen, um die Aufrichtigkeit Ihrer Drohung zu beweisen, und anschließend wäre die zweite Geisel ein guter Schutzschild. Kein Cop würde es wagen, Sie zweimal auf die Probe zu stellen.«
Er starrte sie einen Augenblick an. »Sie sind eine ganz schön harte Nuss«, sagte er schließlich, was eindeutig als Kompliment gemeint war.
»Tja«, erwiderte sie und deutete auf den Stapel Bücher, den sie gerade zurückgebracht hatte, »ich lese viel und denke nach, das ist alles.«
»Wie heißen Sie?«, erkundigte er sich.
»Lorrie.«
»Und weiter?«
»Lorrie Lynn Hicks«, sagte sie. »Und Sie?«
Er machte den Mund auf, hätte ihr fast seinen Namen genannt, lächelte dann jedoch und sagte: »Ich bin ein Mann voller Geheimnisse.«
»Und ein Mann mit einer Mission, wie es aussieht.«
»Den Bibliothekar habe ich schon umgelegt«, sagte er, als wäre Mord ein Pluspunkt im Lebenslauf.
»Das hatte ich schon irgendwie befürchtet«, sagte sie.
Ich räusperte mich. »Mein Name ist James.«
»Hi, Jimmy«, sagte sie, und obgleich sie lächelte, sah ich in ihren Augen schreckliche Traurigkeit und verzweifelte Berechnung.
»Stellen Sie sich neben ihn«, befahl der Irre.
Lorrie kam zu mir. Sie roch so gut, wie sie aussah: frisch, sauber, zitronig.
»Ketten Sie sich an ihn an!«
Als sie die leere Schelle um ihr linkes Handgelenk schloss und dadurch unser beider Schicksal verknüpfte, hatte ich das Gefühl,
etwas sagen zu müssen, um sie zu trösten und die Verzweiflung zu lindern, die ich in ihrem Blick gesehen hatte. Leider versagte mein Witz, sodass ich nicht mehr herausbrachte als: »Sie riechen nach Zitrone.«
»Ich hab den ganzen Tag damit verbracht, zu Hause Zitronenmarmelade einzukochen. Das erste Glas wollte ich heute Abend probieren, auf getoasteten Brötchen.«
»Dann mache ich dazu eine Kanne bittersüße heiße Schokolade mit einer Prise Zimt«, sagte ich. »Zusammen mit Ihren Marmeladebrötchen ist das genau das Richtige, um zu feiern.«
Obwohl sie sichtlich zu schätzen wusste, dass ich unsere Chance zu überleben so zuversichtlich bewertete, blieb ihr Blick so kummervoll wie vorher.
Der Irre sah auf seine Armbanduhr. »Die Sache hier hat schon zu lange gedauert«, sagte er. »Ich muss noch allerhand recherchieren, bevor es mit den Explosionen losgeht.«
9
Alles, was vergangen war, hatte man säuberlich katalogisiert und in Schubladen archiviert. Unter der Bücherei ruhten Katakomben voller Papier, auf dem die ehemals neuesten Nachrichten spröde wurden und vergilbten.
Der Mörder hatte offenbar herausbekommen, dass die Snow County Gazette seit über einem Jahrhundert hier im unteren Keller, zwei Stockwerke unter dem Stadtplatz, ihre alten Ausgaben deponierte. Man sprach von einem »unschätzbaren Archiv der Heimatgeschichte«. Für die Ewigkeit verwahrt wurden in der Gruft der Gazette unter anderem ausführliche Berichte über die Kuchenbüfetts der Pfadfinderinnen, über Wahlen für die Schulbehörde und über die heftigen Streitereien, zu denen es gekommen war, weil der örtliche Donut-Fabrikant sein Firmengelände erweitern wollte.
Jede seit 1950 erschienene Ausgabe war auf Mikrofiche gespeichert. Wollte man in älteren Ausgaben recherchieren, so musste man einen Bestellzettel für die Originalzeitung ausfüllen, und ein Mitarbeiter der Bücherei wurde damit beauftragt, die Benutzung des
Weitere Kostenlose Bücher