Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Trauma

Trauma

Titel: Trauma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D Koontz
Vom Netzwerk:
Gänge meines Verstands eindrang, aber ich weigerte mich, ihr die Schlüssel zu jeder Kammer zu geben.
    Vorher, auf der Straße, hatte das vermeintliche Vorhandensein eines Heckenschützen mich vor Angst gelähmt. Nun wurde mir klar, dass ich nicht vor jemandem Angst gehabt hatte, der irgendwo hinter einem Fenster lauerte – ich war versteinert gewesen, weil ich nicht wusste, ob es wirklich einen solchen Schützen gab
oder ob die tödliche Bedrohung tausenderlei andere Formen annehmen würde. Wenn man eine Gefahr spürt, ohne sie identifizieren zu können, dann wird alles und jedermann zu einer Quelle der Bedrohung; die ganze Welt kommt einem feindlich vor, von einem Horizont zum anderen.
    Die Angst vor dem Unbekannten ist der reinste und wirksamste aller Schrecken.
    Nun hatte ich meinen Feind identifiziert. Obgleich es sich womöglich um einen Irren handelte, der jeder Gräueltat fähig war, verspürte ich eine gewisse Erleichterung, weil ich wusste, wie er aussah. Die ungezählten Bedrohungen in meiner Fantasie hatten sich in Luft aufgelöst und waren durch diese eine reale Gefahr ersetzt worden.
    Der harte Gesichtsausdruck des jungen Mannes wurde milder. Er ließ die Pistole sinken.
    Da ungefähr vier bis fünf Meter zwischen uns lagen, wagte ich es nicht, auf ihn loszustürmen. Ich konnte nur hilflos wiederholen: »Was hat er Ihnen eigentlich angetan?«
    Der Mörder zuckte lächelnd die Achseln. »Wenn Sie nicht reingekommen wären, hätte ich ihn nicht erschossen.«
    Der Schmerz über Lionels Tod wühlte sich tiefer in mich hinein wie eine langsam rotierende Bohrerspitze. Das Zittern in meiner Stimme drückte Gram aus, nicht Furcht. »Was soll das heißen?«
    »Da ich allein bin, kann ich mich nicht um zwei Geiseln gleichzeitig kümmern. Er war allein hier, seine Stellvertreterin ist heute krank. Andere Benutzer waren vorher keine da. Er wollte schon die Tür abschließen – da sind Sie hereingekommen.«
    »Sagen Sie mir bloß nicht, ich bin schuld!«
    »Aber nein, keineswegs«, beruhigte er mich in einem Tonfall, der klang, als wäre er aufrichtig besorgt um meine Gefühle. »Es war nicht Ihre Schuld. Bloß einer von diesen Zufällen.«

    »Einer von diesen Zufällen«, wiederholte ich mit ziemlicher Verblüffung, weil ich nicht begreifen konnte, dass jemand so beiläufig über einen Mord sprach.
    »Vielleicht hätte ich Sie statt ihn erschossen«, sagte der junge Mann. »Aber da ich Sie vorher auf der Straße getroffen hatte, dachte ich, Sie könnten mir besser Gesellschaft leisten als ein langweiliger alter Bibliothekar.«
    »Wozu brauchen Sie überhaupt eine Geisel?«
    »Falls etwas schief läuft.«
    »Was soll denn schief laufen?«
    »Abwarten.«
    Sein Sportsakko war modisch weit geschnitten. Aus einer der geräumigen Innentaschen zog er ein Paar Handschellen. »Die werfe ich Ihnen jetzt zu«, sagte er.
    »Ich will sie nicht.«
    Er lächelte. »Es wird tatsächlich Spaß mit Ihnen machen. Los, fangen Sie auf. Schließen Sie das eine Ende ums rechte Handgelenk und legen Sie sich dann mit beiden Händen hinter dem Rücken auf den Boden, damit ich den Rest erledigen kann.«
    Als er die Handschellen warf, trat ich zur Seite. Sie prallten an einen Lesetisch und fielen klappernd zu Boden.
    Bisher hatte er den Arm mit der Pistole herabhängen lassen. Nun zielte er wieder auf mich.
    Obwohl ich schon vorher in die Mündung gestarrt hatte, fand ich sie das zweite Mal nicht weniger beunruhigend.
    Ich hatte noch nie eine Pistole in der Hand gehalten, geschweige denn eine abgefeuert. Das, was in meinem Beruf einer Waffe am nächsten kommt, ist ein Kuchenmesser. Vielleicht auch ein Nudelholz. Allerdings haben wir Bäcker nicht die Angewohnheit, ein Nudelholz im Schulterhalfter mitzuführen, und sind in Situationen wie dieser daher wehrlos.
    »Heb das Ding auf, Dicker.«

    Dicker! Er war nicht viel weniger dick als ich.
    »Aufheben, sonst mache ich mit dir dasselbe wie mit Lionel und warte anschließend einfach, bis eine andere Geisel durch die Tür da kommt.«
    Bisher hatte ich meine Trauer und meine Wut über Lionels Tod dazu verwendet, um meinen Schrecken zu unterdrücken. Furcht konnte mich zwar schwächen und besiegen, aber Furchtlosigkeit konnte mir den Tod bringen.
    Klugerweise gab ich dem Feigling in mir Raum, bückte mich, hob die Handschellen auf und ließ einen der stählernen Bügel um mein rechtes Handgelenk zuschnappen.
    Der Mörder angelte sich einen Schlüsselbund vom Tresen. »Noch nicht hinlegen«,

Weitere Kostenlose Bücher