Traumfrau (German Edition)
vereint, zwischen seinen Schulterblättern herunterliefen. Atemlos erreichte er das Telefon, riss den Hörer ab, in Erwartung einer dramatischen Nachricht. Er war sicher, Martin Schöller oder Hans Wirbitzki seien am anderen Ende.
Um so verdatterter reagierte er, als Katis Stimme ihm entgegenschlug:
„Ihr seid wohl getrennt worden. Stefanie ist schon ganz traurig. Sie dachte, du hättest aufgelegt, Opi. Ich hab ihr aber erklärt, dass so etwas schon mal passieren kann. Dass die Leitung plötzlich abbricht... Vater ... Die Leitung ist doch unterbrochen worden, oder hast du wirklich aufgelegt?”
„Jaja”, versicherte er, „wir sind unterbrochen worden. Hallo Stefanie, mein Schätzchen. Wie geht’s dir denn? Dachtest du, der Opa hat aufgelegt?”
„Ja, ich dachte, du willst nicht mehr mit mir telefonieren.”
„Aber wie kommst du denn darauf, mein Liebling?”
Im Radio spielten sie jetzt „Born in the USA”. In den letzten Tagen hatte Günther Ichtenhagen diese Platte oft gehört, allerdings nie richtig zur Kenntnis genommen. Jetzt signalisierte die Musik ihm immerhin, dass der Wortbeitrag vorbei war. Er setzte sich, das Telefon auf den Knien, in den Sessel und atmete tief durch. Er erfand eine Geschichte über seine Goldfische und erzählte sie Stefanie.
Als er in die Linde kam, blickte er auf die Uhr. Schon kurz nach acht. Er wurde vorwurfsvoll angesehen wie ein Schüler, der zu spät zum Unterricht kommt. Komisch, dachte er, wie aus Gewohnheiten schließlich Verpflichtungen werden. Was würden sie denken, wenn ich eines Abends gar nicht käme ... Vielleicht wird schon bald eine mandeläugige Thaifrau für mich kochen ...
Gegen seine sonstigen Gewohnheiten bestellte er sich einen doppelten Aalborg-Jubiläums Aquavit, weil er zu Hause vergessen hatte, einen zu trinken und er fand, heute hatte er ihn nötiger denn je. Er ignorierte das stillose Likörglas und goss den Schnaps mit geschlossenen Augen hinunter. Den Schnaps im Magen, spürte Günther Ichtenhagen, dass sich ein Krampf in seinem Körper löste. Er bestellte gleich noch einen Doppelten.
Er fühlte sich, als sei er durch den Radiobericht in ein tiefes Geheimnis eingeweiht worden. Es verstärkte seinen Wunsch, wenigstens einem Mädchen aus dieser Situation herauszuhelfen.
Jetzt erinnerte er sich daran, dass er als Kind mit seinen Spielkameraden an einem Bahndamm Prinzessinnen aus den Kerkern von uneinnehmbaren Festungen befreit hatte. Manchmal hausten Drachen vor diesen Verliesen. Mutig hatten sie sich den siebenköpfigen Drachen gestellt und sie regelmäßig mit einem Holzschwert durch das Abschlagen jedes einzelnen Kopfes getötet. Manchen Monstern wuchsen zwei neue Köpfe, wo man einen abschlug. Aber auch sie waren verwundbar. Zwischen den Schulterblättern. Diese Bilder kamen so plötzlich und wellenartig zurück, dass er sogar den Duft der nahe liegenden Kartoffelfeuer roch und sich plötzlich wieder genau an das Gesicht der blonden Ingeborg erinnerte, die bei diesen Spielen stets den Part der zu befreienden Prinzessin übernommen hatte. Auch spürte er den hingehauchten Kuss auf seiner rechten Wange, den sie nach ihrer Rettung an alle Helden verteilt hatte.
Hanne Wirbitzki sprach ihn an.
„Es macht keinen Spaß mehr, für dich zu kochen. Was ist denn mit dir los? In den letzten Tagen isst du kaum noch etwas, und dann kommst du auch noch zu spät.”
„Gibt’s nichts mehr?”
„Natürlich. Wir haben bis dreiundzwanzig Uhr warme Küche.”
Und warum, dachte Günther Ichtenhagen, warum komme ich dann immer pünktlich um neunzehn Uhr?
„Du siehst so ... so in dich gekehrt aus. Hast du etwa eine Freundin?”
Dass er über ihren Scherz nicht lachte, sondern sie erschrocken ansah, irritierte sie. Sie hatte nur versucht, ihn aufzumuntern.
Es ärgerte ihn, dass sie ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. Es war schön, an Eisenbahnschienen Prinzessinnen zu befreien. Und er verspürte jetzt gar keinen Hunger mehr auf die Hausmannskost der Lindenküche. Ihn gelüstete nach einem spitzen Stock mit einer aufgespießten Kartoffel, die in der Glut ankokelte. Mit langen Zähnen wollte er sie essen, ungeschält, heiß und mit all ihrem Ruß.
Er verließ die Linde rasch, um nicht von irgendwem angesprochen zu werden. Er brauchte Zeit für sich, wollte ein bisschen sinnieren, in der Vergangenheit kramen. Die Flut der blassen Bilder, die jetzt auf ihn zurollte, sollte nicht mehr von Gesprächen unterbrochen werden. Er wollte fortgetragen
Weitere Kostenlose Bücher