Traumfrau (German Edition)
Bürgerwehr, die den letzten Versuch macht, brandschatzende Rowdys von ihren Häusern und Frauen fernzuhalten. Eine nie gekannte Entschlossenheit lag in den Gesichtern der Männer. Wie eine Keule hielt Wolfhardt Paul seine Bierflasche in der Hand, fuchtelte unbeholfen damit in der Luft herum und donnerte: „Also, wenn das so ist, steig ich aus. Dann will ich mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben. Ich will mein Geld zurück und aus.”
Hans Wirbirzki wusste nicht, was die Männer mehr aufbrachte: Wolfhardts Forderung, ausbezahlt zu werden, oder seine Drohung, überhaupt auszusteigen. Was jetzt in den Männern ablief, kannte er. Es war die Angst vor der Entdeckung, die Angst vor dem Prozess, die Angst vor der Öffentlichkeit, die Angst vor den Blicken der Verwandten. Nichts war so schlimm wie diese Angst. Er kannte das. Vor dem Verbrechen war die Angst immer noch größer als danach. Hatte man es erst einmal getan und war nicht entdeckt worden, fehlten einem plötzlich die Argumente, warum die Tat nicht wiederholt werden sollte. Die Bestrafung würde nicht härter ausfallen, ob man es ein-, zwei- oder dreimal tat. Die meisten Menschen scheuten aus Angst vor Entdeckung davor zurück, so extrem aus der Reihe zu tanzen. wie sie es planten, und wie er es lange vor ihnen schon einmal getan hatte. Sie träumten höchstens davon und suchten solche Geschichten in Büchern und Filmen. Wenn sie es einmal getan hatten, wenn sie einmal über diese Angstschwelle gestiegen waren, würden sie sich freier fühlen. In gewisser Weise grenzenlos. Anderen Leuten überlegen. In euphorischen Momenten sogar allmächtig. Einige, dachte er, werden später versuchen, alles ungeschehen zu machen und hinter ihre Grenze zurückzugehen. Wolfhardt Paul zum Beispiel, und vermutlich auch Günther Ichtenhagen. Martin dagegen und vielleicht auch Hermann Segler klettern nicht über diese Grenze, nein, sie reißen sie ein.
Ihre wahren Charaktere würden erst sichtbar werden, wenn sie nichts mehr zu verlieren hätten. Hans Wirbitzki spürte, dass schon in den nächsten Stunden und Tagen das Innere seiner Skatbrüder nach außen gestülpt werden würde. Er war mehr als ein Mittäter. Er war ein genau registrierender Beobachter. Ihre wachsende Schuld sprach ihn mehr und mehr frei. Wer würde es in wenigen Tagen noch wagen, ihm vorzuwerfen, dass er kleine Mädchen verführt hatte? Das Wort „geschändet” würden sie nicht mehr benutzen, denn: Jeder von ihnen wird vor sich selbst schuldig werden. Schon bald werden sich ihre Wertmaßstäbe umgekehrt haben. Keiner von ihnen wird mehr verwerflich finden, was ich getan habe, dachte er.
Der Flaschenöffner lag auf dem Tisch, doch Martin Schöller klemmte die Zacken des Kronkorkens zwischen seine Backenzähne und hebelte die Flasche mit lautem Knirschen auf.
Sofort hatte er die Aufmerksamkeit aller. Unanständig laut ließ er den Gerstensaft in seinen Hals gluckern und stieß danach einen lang gedehnten Rülpser aus. Niemand sprach mehr. Das Durcheinandergeschnattere hatte ein Ende. Wie sehr man mit kleinen, gezielten Regelverstößen Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, fand Martin Schöller faszinierend.
„Also, Günther, da wir keine Einigkeit erzielen, schlage ich vor: Wir stimmen jetzt einfach ab.”
Heftiges Nicken bei den anderen, nur Günther Ichtenhagens Körperhaltung drückte vehementen Protest aus.
In seinem Kopf reihten sich Sätze zu einer Argumentation zusammen, die er schlüssig und überzeugend fand, doch sein Mund formulierte nur den mühsam ausgestoßenen Protest:
„Über so was kann man nicht abstimmen.”
„Man kann über alles abstimmen”, sagte Martin Schöller, und die Mehrheit gab ihm Recht. Er machte seinem alten Lehrer gegenüber damit ein paar Punkte wett. Ein ähnliches Wortgefecht hatte es schon einmal zwischen ihnen gegeben. Als Günther Ichtenhagen die Widersprüche und Tücken innerhalb einer Demokratie erklären wollte, und warum auch in der schönsten Demokratie Autoritäten existieren mussten, die nicht angetastet werden durften. Martin Schöller hatte das alles damals bestritten. Alle sollten gleich sein, jede Entscheidung durch Volksabstimmung fallen, fand der vierzehnjährige Hauptschüler. Damals hatte Günther Ichtenhagen ihn der Lächerlichkeit preisgegeben.
„Und wenn jetzt alle abstimmen, dass zwei mal zwei fünf sind, dann glaubst du das auch? Zwei mal zwei wird immer vier bleiben. In jeder Staatsform! In jeder Gesellschaftsform und völlig
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