Traumfrau (German Edition)
egal, was die Leute darüber denken. Ebenso ist es mit den Farben Grün, Blau, Schwarz und Rot. Man kann nicht abstimmen, dass Schwarz ab jetzt Grün ist.”
Damals war Martin Schöller von seinen Klassenkameraden brüllend ausgelacht worden. Er wusste, dass Günther Ichtenhagen es nicht gut fand. Es war immer leicht, auf Kosten des Schwächeren und auf Seiten des Stärkeren zu lachen. Günther Ichtenhagen sagte es sogar, um seinen Schüler vor der Gemeinheit der anderen zu retten, aber es ging in ihrem Gelächter unter.
Damals kreuzten sich ihre Blicke wie Schwerthiebe. Als Martin Schöller jetzt fragte: „Also, wer ist dafür, dass ich sie abhole und abends hierherbringe?”, hoben alle eine Hand. Nur Günther Ichtenhagen nicht.
Zwischen den beiden, dachte Hans Wirbitzki, da geht viel mehr ab, als wir alle ahnen. Die haben gemeinsame Leichen im Keller. Mit jedem kleinen Punktsieg verschiebt sich zwischen den beiden etwas. Es gibt zwischen Martin Schöller und Günther Ichtenhagen eine große, offene Rechnung. Solche unbeglichenen Rechnungen konnten das Leben eines Menschen beherrschen. Vielleicht stand nur ein Name auf der Rechnung. Vielleicht ein Datum. Eine Tat oder ein Wort. Rechnungen wie: Du hast meine Frau umgebracht – deshalb wirst du sterben, gab es nach Hans Wirbitzkis Erfahrung nur in Filmen. Sie motivierten Leute, die größten Entbehrungen auf sich zu nehmen, um jemanden zur Rede zu stellen, ihn zum Duell zu fordern und schließlich zu besiegen. In der ersten Szene wurde das Motiv geschaffen. Er fand solche Filme langweilig, weil er das Ende schon wusste, bevor die erste Szene ausgespielt worden war.
Im wirklichen Leben bestanden solche Rechnungen aus einer Anhäufung kleiner Verletzungen. Die meisten Menschen wurden nicht von großen, dramatischen Ereignissen umgeworfen, sondern unter einem klebrigen Wust kleiner Niederlagen begraben.
„Also Günther, das Ergebnis ist eindeutig, wie du siehst. Ich hole sie ab. Ich schlage vor, wir treffen uns dann um zweiundzwanzig Uhr hier bei dir und schauen sie uns alle mal an.”
„Früher auf keinen Fall”, wandte Wolfhardt Paul ein.
„Wie willst du sie überhaupt bringen? Mit Bus und Bahn und ihr dann im Dorf einen Kartoffelsack über den Kopf stülpen, damit man sie nicht sieht, oder was?”
Nicht ohne Besitzerstolz, aber mit einem verdächtigen Zittern in der Stimme, sagte Martin Schöller: „Ich hab mir ein Auto gekauft. Günstiges Angebot. Ich muss sowieso nach Frankfurt, um es abzuholen. Dann fahre ich gleich am Flughafen vorbei und bring sie her.” Hermann Segler nickte anerkennend. Es würde also doch noch etwas aus Martin werden.
„Was für ein Auto? Hast du dich auch nicht betrügen lassen?”
„Bei Gebrauchtwagen wird man meistens betrogen. Wie viel hast du bezahlt?”
„So teuer wie Mary war die Kiste jedenfalls nicht.”
Als hätte er sich selbst eine Erklärung gegeben, die er nun verstand, nickte Günther Ichtenhagen, stand auf, goss sich einen Aalborg Aquavit ein. Bevor er das Glas zum Mund führte, fragte er emotionslos: „Wann landet ihre Maschine?”
Das überlegene Lächeln um Martin Schöllers Lippen signalisierte, dass alle Günther Ichtenhagens Versuch, ihre Abstimmung zu ignorieren, durchschaut hatten.
Freundlich, aber herablassend wie ein Oberarzt zur Praktikantin, sagte Martin Schöller: „Mach dir darum mal keine Sorgen. Ich bring sie abends pünktlich zu dir. Zweiundzwanzig Uhr und keine Minute früher.”
27
So einen Tag wollte Günther Ichtenhagen nie wieder erleben. In der Nacht konnte er nicht schlafen, und am Tag nickte er ständig ein. In der dazwischen verbleibenden Zeit zog er sich dreimal komplett um. Wählte ein neues Hemd, einen anderen Binder, dann neue Manschettenknöpfe, die nicht zum Schlips passten, schließlich ein ganz anderes Hemd. Er erschrak, weil das rechte Hosenbein zwei Bügelfalten aufwies und das weite blaue Hemd seinen Bauchansatz zu sehr betonte, während das auf Taille geschnittene ihm zu jugendlich geckig vorkam.
Als er sich endlich entschieden hatte, schwitzte er das Hemd binnen einer knappen Stunde durch und brauchte ein neues. Plötzlich begann er, die Möbel umzustellen, entdeckte, dass im Badezimmer Putz von der Decke bröckelte, in der Küche Fettflecken auf den Fliesen dick wie Kerzenwachs klebten; längst hätte er eine neue Federkernmatratze gebraucht – überhaupt ein ganz neues Bett. Es quietschte schon, wenn man sich nur darauf setzte. Seine Bücher mussten
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