Traumfrau (German Edition)
lag er komplett angezogen im Ehebett. Der Duft des Frühlingsstraußes durchwob zart die staubige Luft. Er starrte zur Decke. Zwanghaft folgten seine Augen ihren schleppenden, schlurfenden Tritten. Wie hellhörig dieses Haus war! Jedes Geräusch dröhnte wie durch einen Verstärker zu ihm ins Schlafzimmer. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Vermutlich ging sie schon seit Stunden auf und ab. Seine Blicke zogen die Linien ihrer Schritte nach. Sie ging von der Tür zum Bett, vom Bett zum Schrank, wieder zur Tür und zurück zum Bett. Ein gleichschenkliges Dreieck. Sie änderte den Rhythmus nicht. Sie verharrte nicht eine Sekunde zögernd. Trat nicht ein einziges Mal heftiger auf. Ihr Schlurfen war wie eine wimmernde, eintönige Musik. Sie konnte unmöglich die hochhackigen Stöckelschuhe tragen, mit denen sie angekommen war. Vermutlich ging sie barfuss. Warum setzte sie sich nicht? Warum legte sie sich nicht aufs Bett? War sie nicht müde? Brauchte sie keinen Schlaf? Bekam sie keinen Durst? Musste sie nicht mal zur Toilette? Gab es nichts, das ihren Marsch durchs Zimmer unterbrechen konnte?
Günther Ichtenhagen schlief leicht ein, und als er eine Stunde später erwachte, bewegte sie sich gerade vom Bett auf den Schrank zu.
Im Schlafzimmerlampenschirm brummte eine Schmeißfliege immer wieder gegen die sechzig-Watt-Birne. Sie wird sterben bei ihrer Suche nach Wärme und Licht, ohne ins Innere der Glühbirne gelangt zu sein, ohne bekommen zu haben, wonach sie strebte. Er fand das Schwirren ihrer Flügel und die sinnlosen Stöße ihres Körpers gegen die Glühbirne noch nervtötender als Marys schleppende Schritte über ihm.
Sein Wunsch, die Situation zu verändern, wurde übermächtig. Nachdem seine Skatbrüder die Wohnung endlich verlassen hatten, war er zu Mary hochgegangen. Er wusste selbst nicht genau, worauf er hoffte. Jedenfalls waren ihm die anderen jetzt nicht mehr im Weg. Er suchte eine Möglichkeit, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie würde ihn nicht verstehen, und sie konnte ihm nichts sagen. Aber Wege für eine Kommunikation gab es immer. Vielleicht über eine Bildschrift. Er kannte durch einen taubstummen Schüler ein paar Zeichen der Stummensprache. Er glaubte plötzlich, sich daran erinnern zu können, diese Sprache sei nicht von Land zu Land verschieden, sondern international. Noch während er die Treppe hoch ging, verwarf er den Gedanken als unsinnig. Sie hatte ihre Tür verschlossen. Er besaß einen Schlüssel, wollte ihn aber nicht benutzen. Auf keinen Fall sollte sie das Gefühl haben, dass er gegen ihren Willen in diese ihre Privatsphäre eindringen würde. Vermutlich hatte sie Probleme und Ängste genug. Vor ihm sollte sie keine Angst haben. Nicht vor ihm. Dann stand er vor der Tür, redete mit ruhiger Stimme von sich, von seiner Frau, seiner Tochter Kati, seinem Enkelkind, bat sie, ihn reinzulassen, äußerte sogleich Verständnis dafür, falls sie müde sei und schlafen gehen wolle, versprach, sie nicht anzufassen, pries dann seinen Garten und den Teich in höchsten Tönen, beklagte sich über die Schädlinge. Als seine Füße müde wurden, setzte er sich auf den Treppenabsatz und redete weiter. Sie verstand ihn ohnehin nicht und hielt die Tür verschlossen. So wurde aus dem Gespräch ein Selbstgespräch; über das Für und Wider chemischer Insektenbekämpfung, übers Altwerden, über Winterteiche und die Auswirkungen des Herzinfarkts auf den Alltag.
Sie gab ihrerseits kein Zeichen, dass sie ihn auch nur zur Kenntnis nahm.
Er kniete vor dem Schlüsselloch und versuchte, einen Blick auf sie zu erhaschen. Sie hatte nur die Stöckelschuhe ausgezogen, ansonsten war sie vollständig bekleidet. Sie trug sogar den dünnen Sommermantel. Ihre Schultern waren nach vorn gebeugt, der Kopf gesenkt, die Arme vor der Brust verschränkt. Mit den Handflächen rieb sie sich die Schultern und die Oberarme.
Sie friert, dachte Günther Ichtenhagen. Sie friert! Na klar, sie ist andere Temperaturen gewöhnt als wir. Für uns ist das ein lauer Sommerabend. Für sie vermutlich ein Kälteeinbruch. Vielleicht war es bei ihr zu Hause fünfzehn Grad wärmer als hier.
Er ging in den Heizungskeller und stellte die Ölheizung von Sommer- auf Winterbetrieb um. Da sie nicht vollständig entlüftet war, begann sie zu bullern und zu pfeifen. Schon befürchtete er, die merkwürdigen Geräusche könnten Mary ängstigen, und wollte die Heizung wieder abstellen. Dann entschied er sich dagegen. Sie sollte es warm haben. Er stellte
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