Traumfrau (German Edition)
Übermüdung hin, und dass man sie schließlich in Zukunft täglich besuchen könne. Man sollte sie am ersten Abend nicht überfordern. Dabei zwinkerte er Günther Ichtenhagen komplizenhaft zu. Günther Ichtenhagen fand diese Geste überaus ungebührlich, aber er war trotzdem erleichtert, dass Martin es ihm abnahm, die anderen hinaus zu komplimentieren. Ihm selbst wäre es ungleich schwerer gefallen. Er befand sich in einer denkbar schlechten Position. Zwar war er der Hausherr, doch wenn er nun die anderen nach Hause schickte, stand er da als einer, der nur mit ihr allein sein wollte; und wenn er vor sich selbst ehrlich war, stimmte das auch.
Hermann Segler und Wolfhardt Paul wirkten erleichtert.
Vermutlich, dachte Hans Wirbitzki, ist die Situation für die beiden genauso stressig wie für Mary. Sie können sich in ihrer neuen Rolle noch nicht bewegen. Sie verhalten sich ähnlich buhlend wie damals, als sie ihre öden Frauen kennen lernten. In den nächsten Tagen würden sie ihre Scham und ihre Scheu ablegen. Da war er ganz sicher. Hier würden bald andere Töne angeschlagen werden. Aber er selbst wollte noch nicht gehen. Außerdem passte es ihm nicht, wie sehr Martin Schöller alle Fäden in der Hand hielt. Von diesem dummen, jungen Bengel wollte er sich nicht herumkommandieren lassen ...
Noch hatte keiner von ihnen sie berührt. Und schon sollten sie alle nach Hause gehen, um eine Nacht voller unerfüllter Träume neben ihren Ehefrauen zu verbringen. Damit war er ganz und gar nicht einverstanden. Der Gedanke, dass sich dieser knieumspielende Rocksaum gleich für ihn lüften würde, machte ihm fiebrige Wangen.
Hermann Segler und Wolfhardt Paul verabschiedeten sich mit einem Händedruck von ihr, und Wolfi machte sogar einen Diener. Grinsend knuffte Martin Schöller Hans Wirbitzki in die Seite. Hans Wirbitzki protestierte. Er wollte noch ein bisschen bleiben. Aber breit und sperrig stellten Martin Schöller und Günther Ichtenhagen ihm ihr Nein entgegen.
„Sie braucht jetzt Ruhe.”
„Wieso? Ist sie hier im Sanatorium, oder ...”
„Oder was?”, unterbrach Günther Ichtenhagen scharf.
Hans Wirbitzki rechnete nicht damit, dass Martin Schöller es wagen würde, ihn einfach hinauszuschieben. Aber als er den gestählten Körper von Martin Schöller berührte, fühlte er sich plötzlich so unterlegen, dass er nachgab. Hier zählte keine Freundschaft mehr. Um vor dem Mädchen gut dazustehen, wäre jeder bereit, ihn niederzuschlagen. Noch.
Dankbar nickend schloss Günther Ichtenhagen die Tür hinter ihnen zu. Dann lehnte er sich gegen die Tür und atmete tief durch.
Hans Wirbitzki und Martin Schöller blieben noch am Zaun stehen, jeder belauerte den anderen.
„Du wirst deinen Schlüssel doch nicht schon heute Abend benutzen wollen, oder, Hans?”
„Was geht’s dich an? Gehört sie dir? Bestimmst du jetzt über sie oder was?”
„Ich finde, die erste Nacht sollte Günther gehören. Immerhin muss er sie heiraten. Du weißt, wie sensibel er ist.”
„Red bloß nicht so rücksichtsvoll daher! Du warst mit ihr nicht nur bei McDonald’s essen. Während wir hier auf euch warteten, hast du sie schon eingeritten, stimmt’s?”
Martin Schöller grinste. Ihm gefiel die Vorstellung, dass Hans Wirbitzki dachte, er hätte sie schon gehabt. Sie gab ihm eine gewisse Überlegenheit. Betont freundschaftlich klopfte er seinem Skatbruder auf die Schulter und wählte einen Satz, der ihn nicht festlegte, wohl aber den Verdacht verstärkte: „Hast dich wohl auf eine Jungfrau gefreut, was?”
Martin Schöller erschrak über den nackten Zorn, der ihm aus Hans Wirbitzkis Augen entgegenschlug. Das war keine Wut. Das war Hass. Blanker, tödlicher Hass.
Ohne ein Wort verstand Martin Schöller, dass es Dinge gab, über die man mit Hans Wirbitzki besser keine Scherze machte. Er hatte es nicht mit einem lungenkranken Rentner aus dem Ruhrgebiet zu tun, sondern mit einem Mann, der gefährlich werden konnte. Mit einem, der hassen konnte. Mit einem, der lieber bereit war, unterzugehen, als sich beleidigen zu lassen. Mit einem beschwichtigenden „Lass mal gut sein!” versuchte Martin Schöller, die Situation zu entkrampfen. Aber er wagte es nicht, Hans Wirbitzki noch einmal auf die Schulter zu klopfen. Die leiseste Berührung hätte ihn zur Explosion bringen können. Und der körperlich weit überlegene Martin Schöller empfand plötzlich eine unbestimmte Furcht vor seinem Skatbruder Hans Wirbitzki.
30
Zum ersten Mal im Leben
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