Traumfrau (German Edition)
aus dem Käfig des Gewohnten ausbrechen. Die wohlanständige, bürgerliche Fassade bedeutete ihm nichts mehr.
Was machte es, wenn das Haus unter den Hammer kam? Was, wenn alle in Ichtenhagen mit dem Finger auf ihn zeigten? Eine Gier auf neue, unglaubliche Erfahrungen trieb ihn an.
Allein war er ein melancholischer, im Weltschmerz versunkener alter Mann. Mit Mary aber konnte alles anders werden.
„Mary! Mary! Wo bist du? Komm her, ich bin wieder zurück, es geht mir gut.”
Er wartete. Es tat sich nichts. Das Haus schien leer zu sein. War es möglich, dass sie um diese Zeit im Bett lag und schlief? Lockte die Sonne sie nicht? Lag sie vielleicht im Liegestuhl auf dem Balkon und bräunte sich?
Ich muss ihr unbedingt einen Bikini kaufen, dachte Günther Ichtenhagen. Bei dem Wettet braucht ein junges Mädchen einen vernünftigen Badeanzug.
Wenn sie nicht runterkommt, gehe ich eben zu ihr.
Schon auf der zweiten Stufe entschied er sich dagegen. Sein Herz schlug regelmäßig, hüpfte nicht mehr so ungestüm wie am Vortag, aber er fürchtete sich vor der Treppe. Neben Mary, auf ihren Arm gestützt, hätte er die Treppe in Angriff genommen, aber so ...
„Mary? Mary, schläfst du noch? Ich bin’s. Günther!”
Zunächst suchte er die untere Etage ab. Die Spuren fremder Menschen störten ihn. Volle Aschenbecher, ungespülte Gläser. Nicht einmal das Telefon stand an seinem üblichen Platz. Aber was viel schlimmer war, mit jedem Zimmer, in das er sah, wurde die Gewissheit größer: Mary befand sich nicht im Haus.
Er brauchte nicht länger zu suchen. Sie hätte diese Unordnung sicherlich beseitigt, die Blumen gegossen und die Aschenbecher geleert. Es musste gelüftet werden. Erst jetzt fiel ihm auf, wie stickig sein Haus geworden war.
Mit jeder Minute wurde er gebrechlicher. War er umsonst aus dem Krankenhaus gekommen? Warum wartete sie hier nicht auf ihn? Hatten die anderen sie irgendwohin mitgenommen?
Ohne Rücksicht auf sein Herz, angespornt von trotzigem Zorn, nahm er nun die Treppe wie einen feindlichen Berg. Das Artilleriefeuer seines Herzens in den Ohren, stürmte er die gegnerische Stellung. Oben angekommen, fühlte er sich besser als erwartet. Nicht mehr ganz so alt und gebrechlich, aber immer noch leicht verwundbar. Schutzlos.
Das Zimmer war leer. Der säuerliche Geruch störte ihn noch mehr als die kalte Asche im Wohnzimmer. Vielleicht hatte der Aufenthalt im sterilen Krankenhauszimmer seinen Geruchssinn geschärft? Er wollte die Tür öffnen, um frische Luft hereinzulassen, aber etwas klemmte. Er bekam die Tür nicht auf.
Während er an der Tür rüttelte – es war, als sei außen ein Riegel angebracht –, fiel das Bettgestell in seinen Blickwinkel. Da baumelte etwas, das da nicht hingehörte. Zerschnittene Reste von Mullbinden. Verbandszeug. An allen vier Enden des Bettes hingen die zerschnittenen Fesseln. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die festgezurrten Knoten zu lösen.
In einer Wut, wie er sie nie zuvor verspürt hatte, stolperte Günther Ichtenhagen die Treppe hinunter. Er wollte raus aus seinem Haus, um Martin Schöller zur Rede zustellen. Wie einen dummen Jungen würde er ihn ohrfeigen, anschnauzen und schulmeistern. Was bildete der sich ein?
Günther Ichtenhagen verschwendete keinen Gedanken darauf, dass ein anderer Mary ans Bett gefesselt haben könnte. Das traute er nur Martin zu – und eigentlich bis zu diesem Moment nicht einmal dem. Schon war er unten. Als er die schwere Haustür öffnen wollte, hörte er ein Geräusch. Es kam von ganz unten. Aus dem Keller. Er blickte zur Kellertür. Sie stand einen Spalt offen. Im Kellerflur brannte Licht.
Neben dem Garderobenständer am Eingang hing Günther Ichtenhagens Spazierstock mit dem versilberten Griff. Er nahm ihn wie eine Waffe und preschte in den Keller vor. Atemlos blieb er einen Moment im Kellerflur stehen. Er lauschte in die Stille und wusste plötzlich ganz genau, wo Mary war. Im Heizungskeller. Im einzigen ausbruchsicheren Raum des Hauses. Wegen der Brandgefahr mit einer Stahltür versehen, nur von außen abschließbar. Günther Ichtenhagen drehte den Schlüssel um und riss die Tür auf.
Da stand sie. Zwischen den tausendfünfhundert Liter Öltanks wirkte sie noch kleiner und zierlicher als zuvor. Sie stand unnatürlich vorgebeugt, hielt sich mit einer Hand die Seite, als sei sie dort verletzt.
Als sie Günther sah, erhellte sich ihr Gesicht. Sie machten Schritte aufeinander zu und begrüßten sich wie Freunde, die sich
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