Traumfrau (German Edition)
Vielleicht brauchte sie einen Druckverband oder Schmerzmittel.
Sie tranken schon die dritte Kanne Tee zusammen. Ihm wurde fast übel von dem Zeug, und er fühlte sich merkwürdig aufgeputscht, aber er wollte den Tee, den sie zubereitete, nicht ablehnen.
Hoffentlich belastet der Tee mein Herz nicht zu sehr, dachte Günther Ichtenhagen, dann wendete er sich wieder der Tafel zu, weil seine Schülerin ihn gestenreich aufforderte, fortzufahren.
„Wir werden heiraten”, sagte er immer wieder zwischen den einzelnen Lektionen. Offensichtlich verstand sie ihn, denn sie nickte. Außer wenn er ihre Hand über die Tafel führte, berührten sie sich nicht. Trotzdem empfand Günther Ichtenhagen das Zusammensein mit ihr als sehr privat, fast intim, so als webten sie gemeinsam an einem sehr dünnen Faden.
Er hoffte, dass dieser Faden nicht so bald die Zerreißprobe bestehen müsste.
Rechnen konnte sie wesentlich schneller als er. Einmal verbesserte sie ihn sogar, als er sich beim Dreisatz geirrt hatte. Lachend korrigierte sie seinen Fehler. Auch Günther Ichtenhagen lachte. Dann, plötzlich, zog sie sich zurück, beobachtete ihn nur noch aus den Augenwinkeln.
Vielleicht, dachte er, weiß sie nicht, ob ich über mich oder über sie lache. Vielleicht empfindet sie mein Lachen als Spott über ihre Kühnheit, mich darauf hinzuweisen. Ich muss vorsichtig sein.
Ich weiß fast nichts über sie.
Die Unterrichtsstunden mit ihr wirkten besser auf seinen Gesundheitszustand als alle Spritzen und Pillen der letzten Jahre.
Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte er wieder richtigen Appetit. Er wollte essen und nicht einfach irgendetwas, sondern etwas Besonderes. Ohne Rücksicht auf seinen Magen wollte er etwas Feuriges, Scharfes schmecken und mit einigen Bieren herunterspülen. Er stellte sich dazu das Gesicht des Oberarztes im Krankenhaus vor und musste erneut lachen.
Für einen Augenblick wusste er nicht, warum er nicht mit Mary in die Linde essen gehen sollte. Aber dann sprach plötzlich alles dagegen. Er wollte die schöne Stimmung, die zwischen ihnen entstanden war, nicht von außen zerstören lassen. In der Linde war diese Gefahr groß. In Weierstadt hingegen ... Das Chinarestaurant in Weierstadt ... Warum nicht?
Günther Ichtenhagen bestellte ein Taxi. Früher wäre es ihm furchtbar teuer vorgekommen. Fünfundzwanzig Mark, um nach Weierstadt zu kommen! Plötzlich erschien es ihm sehr preiswert.
„Wir gehen essen. Chinesisch. Das wird dir bestimmt gefallen. Dann kannst du mir auch etwas beibringen: mit Stäbchen zu essen. Kannst du so was? In Weierstadt kann man Stäbchen bestellen. Wirklich! Ich glaube kaum, dass das jemals einer von den Einheimischen dort gemacht hat. Aber ich werde es ausprobieren. Und du zeigst es mir. Dann führst du meine Hände! Willst du dich erst umziehen? Du bist so wunderschön, du kannst gern so bleiben wie du bist.”
Ihm wurde bewusst, dass er viel zu viel redete. Sie verstand, wenn überhaupt, nur einzelne Worte. So einen Redeschwall durfte er nicht oft auf sie niederprasseln lassen. Damit verunsicherte er sie nur.
Schon wenige Minuten später war das Taxi da. Als er mit Mary vor die Haustür trat, blickte er stolz geradeaus. Mary hingegen blieb nervös im Schutz des Türrahmens stehen. Er legte seinen Arm um sie und zog sie sanft mit sich. Er spürte eine Gänsehaut über ihren Körper huschen. Sie hüstelte und zitterte leicht. An den Temperaturen konnte es nicht liegen. Es war ein schwüler Sommertag.
Der Taxifahrer trug ein verschwitztes, weißes T-Shirt. Zwischen Mittel- und Zeigefinger beider Hände hatte das Nikotin seine Haut tiefbraun gefärbt. Er gaffte Mary ungeniert an.
Obwohl im Taxi am Armaturenbrett ein rotes Schild mit weißer Aufschrift: „Nichtraucher!” angebracht war, zündete er sich sofort eine Filterzigarette an. Günther Ichtenhagen und Mary stiegen hinten ein. Bevor er losfuhr, richtete der Fahrer den Spiegel neu aus.
Günther Ichtenhagen bemerkte, dass der Rückspiegel nicht auf den rückwärtigen Straßenverkehr, sondern ganz auf Mary gerichtet war.
Mary sah den Fahrer nicht an, blickte nur vor sich hin, hielt die Knie mit beiden Händen umschlossen und reagierte auch nicht, als Günther Ichtenhagen seine linke Hand auf ihre Handgelenke legte, um die Einschnitte und Abschürfungen vor dem Fahrer zu verbergen.
„Zum Chinarestaurant nach Weierstadt bitte, und sehen Sie nach vorn. Hier hinten ist alles in Ordnung.”
Günther Ichtenhagen war stolz darauf,
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