Traumfrau mit Fangzähnen
das von einem Windstoß erfasst wurde und wild durch die Luft tanzte.
»Was zum Teufel war das denn gerade?«, fragte Cormac.
»Er ist ein Schamane«, sagte ich. »Vielleicht sogar ein Gestaltwandler. Er hat einen Zaubertrick angewandt, ihr wisst schon, wie ein Illusionszauber in einem der Tricks von Penn und Teller, diesem Magierduo aus Las Vegas.«
»Woher weißt du das, Daphy?«, fragte Benny.
»Ich habe es schon einmal gesehen. Oder zumindest etwas Ähnliches. In Afrika. Was hat er dir gegeben, Bubba?«
Bubba öffnete seine Hand. »Es sieht aus wie ein Stück Baumrinde.«
Wir berieten, was wir als Nächstes tun sollten, und beschlossen, dass Bubba die Baumrinde aufbewahren sollte, bis wir sie J für eine genaue Analyse übergeben konnten. Bubba bot außerdem an, einen Bericht über den Vorfall zu schreiben, und das war mir nur recht. Ich konnte mir bereits bildlich vorstellen, wie J auf den Teil reagieren würde, wenn Don Manuel sich in Luft auflöste. J fiel es schwer, uns Vampiren zu vertrauen. Wenn er etwas nicht sehen, riechen, berühren oder töten konnte, existierte es nicht für ihn. Tja, wie einst schon Hamlet sagte: ›Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio.‹«
Ich hatte genug für heute und wollte nach Hause. Die Temperatur war noch weiter gesunken, und ich fühlte mich, als hätte ich überhaupt kein Blut mehr in den Adern, das mich wärmte. Meine Lederjacke war eher schick als wetterfest, meine Zähne klapperten so laut, dass ich wie ein Eichhörnchen klang, und meine Finger in den dünnen Lederhandschuhen wurden langsam steif. Nachdem sich das Adrenalin in meinem Körper abgebaut hatte, überfiel mich die Schwermütigkeit wie ein dunkler Schleier. Ich brauchte dringend menschliches Blut, um meine Energiereserven wieder aufzufüllen, und glücklicherweise hatte ich dank einer Vereinbarung mit einer teuren, aber diskreten Blutbank noch welches zu Hause im Kühlschrank.
Cormac wollte ebenfalls nach Hause, doch Bubba und Benny beschlossen, noch ein, vielleicht auch zwei oder drei Bier trinken zu gehen. Cormac und ich winkten jeder ein Taxi heran. Ich musste zur Upper West Side, wo ich seit einigen Jahren in einem geräumigen Apartment in einem Altbau auf der West End Avenue lebte, Cormac hingegen wohnte in einer Wohnung in Greenwich Village, die etwa so groß war wie eine Besenkammer. Im Taxi schloss ich die Augen und stellte mir ein ausgiebiges, heißes Bad vor, durch das die Kälte aus meinen Knochen vertrieben wurde. Das Taxi raste, ohne anzuhalten, durch die Stadt. Es war kaum Verkehr, und der kahlköpfige Fahrer mittleren Alters – seiner ID-Karte zufolge hieß er Stewart Weiss und kam aus Brooklyn – besaß ein perfektes Timing für die Ampeln, die immer genau vor uns auf Grün sprangen, so dass er nicht ein Mal vom Gas gehen musste. Vor meinem Wohnhaus stieg ich aus und gab dem Fahrer das Geld durch das offene Fenster. Offenbar war ich sein letzter Fahrgast für diese Nacht gewesen, denn er knipste die Lampe mit der Aufschrift AUssER DIENST an. Es war inzwischen fast drei Uhr. Ich atmete tief durch und trat auf die gläserne Eingangstür des Apartmenthauses zu.
Plötzlich durchdrang ein Schrei die Nacht, der mir das restliche Blut in den Adern gefrieren ließ.
Das Geräusch stammte nicht von einem Menschen, sondern war der Schrei eines verzweifelten Tieres, das unendliche Qualen zu erleiden schien. Ich reagierte, ohne nachzudenken, und wirbelte herum, um herauszufinden, woher das Geräusch gekommen war. In diesem Augenblick ertönte der markerschütternde Schrei, der mehr einem Heulen glich, erneut. Er kam von oben, aber woher genau? Ein Stück die Straße hinab stand ein verlassenes Gebäude, das abgerissen werden sollte. Ich vermutete, dass das Geräusch von dort aus den oberen Stockwerken oder sogar vom Dach kam. Während ich darauf zu rannte, vernahm ich den gepeinigten, angsterfüllten Schrei zum dritten Mal. Ich blieb stehen und sah nach oben. Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Die Kälte ignorierend, zog ich hastig meine Sachen aus und versteckte sie hinter einigen Mülltonnen, die neben dem Gebäude standen. Gleichzeitig begann ich bereits mit meiner Verwandlung. Ein Prickeln wie von einer elektrischen Ladung raste über meine Haut, die Luft wirbelte um mich herum, und ein greller Lichtblitz flammte auf, als sich meine prachtvollen Fledermausflügel auf meinem Rücken entfalteten. Meine Glieder dehnten sich, meine
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