Traumhaft verliebt - Roman
nicht länger zugehört, sondern sich von ihren eigenen emotionalen Turbulenzen davontragen lassen. »Ich gehe frische Luft schnappen«, murmelte sie.
Keine der Damen achtete auf sie, was Sarahs Verdacht bestätigte, dass sie so gut wie unsichtbar war. Sie holte tief Luft, bewegte sich vorsichtig in Richtung Tür, betete, dass niemand auf sie aufmerksam wurde, niemand etwas zu ihr sagte, obwohl sie sich im Grunde genau das wünschte.
Bemerkt zu werden. Mit einbezogen zu werden. Eine von ihnen zu sein.
Als sie ihre Jacke von der Garderobe nahm und aus der Tür schlüpfte, pochte ihr Herz, als hätte sie einen Hundertmeterlauf hinter sich. Die Flucht war ihr gelungen, und sie verspürte einen Anflug von Euphorie.
Doch vor was sie eigentlich geflohen war, wusste sie nicht.
Die Sonne hing tief am Horizont, auch wenn die Temperatur bei milden vierzehn Grad Celsius lag. Sarah überlegte, ob sie ins Merry Cherub zurückkehren sollte, aber der Gedanke an eine Lobby voller Gäste und eine muntere Jenny hielt sie davon ab. Sie war in der Stimmung, allein zu sein. Die Hände in den Jackentaschen huschte sie davon in Richtung Fußgängerweg, der um den See herumführte.
Passanten lächelten und nickten ihr zu, zwangen sie, ihren Gruß zu erwidern. Sie vermisste die Anonymität von Manhattan, senkte den Kopf und beschleunigte ihren Schritt. Ein paar Minuten später war sie am Hafen.
Sie hatte gar nicht vorgehabt, ein Tretboot zu nehmen – eigentlich hatte sie nichts anderes im Sinn gehabt, als für sich zu sein und das Gefühlschaos in ihrem Inneren genauer zu betrachten –, bis sie die Boote an der Pier auf- und abschaukeln sah. Sechs von ihnen waren leuchtend rot gestrichen. »Merry Cherub« stand in strahlend weißen Buchstaben darauf und wies sie als Eigentum des B&B aus. An ihrem Ankunftstag hatte Jenny ihr erklärt, dass im Hafen Tretboote für die Gäste bereitlagen, und ihr die Kombination für die Zahlenschlösser genannt.
»Die können Sie gar nicht vergessen.« Jenny hatte gelacht. »Die Kombination ergibt auf der Telefontastatur das Wort LOVE. Dreimal die Fünf, dreimal die Sechs, dreimal die Acht, zweimal die Drei.«
Ausgerüstet mit dieser Information klapperte Sarah mit ihren hohen Absätzen über die hölzernen Stegplanken zu den Tretbooten. Sie öffnete eins der Zahlenschlösser, nahm die Kette ab und ließ sich zu einer spontanen Spritztour auf den Sitz gleiten, dann trat sie in die Pedale und lenkte das Boot rückwärts auf den See hinaus. Hinter ihr spritzte Wasser auf, und als sie erst einmal vom Steg weg war, änderte sie ihre Tretrichtung und fuhr von dannen.
Der Wind nahm zu, blies von hinten gegen das Boot und trieb sie schnell auf den See hinaus. Um sie herum sprangen Fische aus dem Wasser und schnappten nach Insekten, ihre Schwänze peitschten das Wasser, wenn sie zurück unter die Oberfläche glitten. Das Tretbootfahren half ihr, einen klaren Kopf zu bekommen. Ihre Verwirrtheit löste sich auf, freudige Erregung machte sich in ihr breit, als das Boot über die Wellen tanzte. Der Wind wehte frisch und scharf, und die abnehmende Temperatur trug zu ihrem plötzlichen Hochgefühl bei. Frei. Sie war frei. Allein und in Bewegung fuhr sie Tretboot auf dem See und konnte ihre Gedanken schweifen lassen.
Ihre Euphorie dauerte so lange, bis ihre Beine müde wurden und sie versuchte, das Boot zurück zum Steg zu lenken.
Doch es ließ sich nicht wenden.
Sie trat fester.
Geräuschvoll wühlten die Schaufelräder das Wasser auf, aber das Boot rührte sich nicht vom Fleck. Tretboote ließen sich ausschließlich durch Muskelkraft bewegen, eine andere Möglichkeit gab es nicht. Auf einmal stellte sie fest, dass sie ganz und gar nicht am Fleck blieb: Die Böen trieben sie immer weiter in die Mitte des Sees, so mühelos, als wäre sie ein Wasserkäfer. Egal, wie fest sie trat, die Strömung war stärker.
Na schön, sie war leicht besorgt. Sie trieb auf einem See, der sich über eine gewaltige Fläche erstreckte und an der tiefsten Stelle knapp fünfundzwanzig Meter tief war. Dabei war sie nicht gerade die beste Schwimmerin der Welt. Eine Rettungsweste hatte sie nicht dabei, die verwahrte Jenny im Merry Cherub, und bald würde die Sonne untergegangen sein. Immerhin war das Boot intakt, und es war durchaus möglich, dass der Wind sie ans Ufer trieb. Doch hoffentlich würde vorher jemand vorbeikommen.
Sie blickte über den See und stellte fest, dass sie weder das Ufer erkennen noch sich erinnern konnte,
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