Traumjaeger und Goldpfote
einen Blick zurückzuwerfen – weder auf Raschkralle und Grillenfänger noch auf das zermalmte, augenlose Wesen auf dem Höhlenboden. Viele Stunden später kam Hartbiss, um Raschkralle zum Graben zu holen. Sein Gesicht war geschwollen: Kratzkralles Bestrafung für Hartbiss’ Nachlässigkeit. Grillenfänger war nicht aus dem Schlaf zu reißen, und der humpelnde Krallenwächter biss ihn in einer üblen Laune so heftig ins Ohr, dass es blutete. Trotzdem wachte Grillenfänger nicht auf, obgleich das schwache Heben und Senken seines Brustkorbes zeigte, dass er noch lebte. Über sein Versagen verärgert – und vielleicht weil er eine neue Strafe fürchtete –, ging er mit dem kleinen Raschkralle besonders brutal um, als er ihn zur Arbeit trieb. Raschkralle wurde einer Gruppe von Sklavenarbeitern zugeteilt und verbrachte lange Tage in erstickender Hitze damit, an schmutzigen Tunnelwänden mit seinen kleinen Pfoten zu kratzen.
Die Zeit verging. Raschkralles Welt verengte sich zu einem sich immer wiederholenden Alptraum: Graben, gefolgt von Einsamkeit in der winzigen Höhle, wenn die Arbeit vorüber war. Grillenfänger verharrte in seinem todähnlichen Zustand. Er erhob sich weder um zu essen noch um
Me’mre
von sich zu gebenund rührte sich nur gelegentlich. Seine Wächter waren zu der Überzeugung gelangt, dass er seinen Willen zu leben aufgegeben hatte, und ließen ihn in der kleinen Felsenkammer unbehelligt, wenn Raschkralle zur Arbeit gehetzt wurde.
Eines Tages, als er von Langzahn durch die gewaltige Höhle geführt wurde, die an das große Tor von Vastnir stieß, glaubte Raschkralle Traumjäger zu sehen. Die Katze, die so aussah wie sein Freund, befand sich in einer dichten Gruppe von Sklaven-Katzen, die zu einem der äußeren Tunnel unterwegs zu sein schien. Raschkralle rief aufgeregt Frittis Namen, doch war, falls es sich um Traumjäger handelte, die Entfernung wohl zu groß, denn die Katze mit dem weißen Stern auf der Stirn drehte sich nicht um. Raschkralle bekam einen heftigen Tatzenhieb von Langzahn quer über sein Maul und musste länger arbeiten als gewöhnlich. Als er in dieser Nacht in sein Verlies zurückgekehrt war, begann Raschkralle sich ernsthaft mit der Tatsache zu befassen, dass er Traumjäger vielleicht nie wiedersehen würde. Dachschatten hatte er bereits verloren. Er sah keine Möglichkeit, jemals aus dem Hügel zu fliehen.
Bis zu dieser Stunde hatte er gehofft, tief in seinem Inneren, dass alles nur ein böser Traum sei, ein Hirngespinst. Doch am Ende war ihm klar geworden, dass seine Augen geöffnet waren. Er wusste nun, wo er war. Er wusste, dass er bis zu seinem Tod dortbleiben würde.
Diese Erkenntnis hatte etwas eigentümlich Befreiendes. Es war ein Gefühl, als sei irgendwo in seinem Herzen einem Teil seiner selbst die Freiheit geschenkt worden, unter dem Himmel entlangzulaufen – nur seinen Leib zurücklassend. Zum ersten Mal, seit die Krallengarde ihn gefangen genommen hatte, schlief er friedlich.
Im Schatten der Bäume am Rand des Rattblatt-Waldes, während die Sonne der Kleineren Schatten matt und entrückt am winterlichen Himmel stand, blickte Dachschatten über das trüb erhellte Tal zu dem klobigen Hügel hinüber.
Obgleich sie sich nun gesund genug fühlte, um zu wandern – der stechende Schmerz im Hinterbein war fast verschwunden –, hatte sie sich genötigt gefühlt, einen letzten Blick auf den Urheber ihres Unglücks zu werfen.
Vastnir krümmte sich zusammen wie ein lebendiges Wesen, das auf den geeigneten Augenblick wartete, sich zu erheben und zuzuschlagen. Sie fühlte, wie das Pulsieren des Hügels ekelerregend in ihrem Magen zitterte. Dachschatten wünschte jetzt nichts mehr, als sich auf der Stelle umzudrehen und fortzugehen. Irgendwo, das wusste sie, gab es Wälder, die von diesem Pesthauch nicht befallen waren – reine, tiefe Wälder. Wenn die Krankheit sich ausbreitete, so gab es doch Orte, wohin sie nicht kommen würde, solange sie, Dachschatten, lebte.
Den ganzen dunklen Nachmittag hindurch blickte Dachschatten zu dem verhassten Hügel hinüber. Als die Dunkelheit kam, fand sie einen versteckten Platz und schlief. Beim ersten Tageslicht starrte sie erneut zum Vastnir hinüber. Sie dachte nach.
22. KAPITEL
Ich spüre das Band der Natur,
Das uns verbindet: Fleisch von meinem Fleisch,
Bein von meinem Bein bist du, und niemals
Werden wir uns trennen, in Wonne oder Schmerz.
John Milton
I m Traum stand Fritti auf der obersten Spitze eines
Weitere Kostenlose Bücher