Traumkristalle
doch selbst einsehen, daß es eine unaussprechliche Torheit wäre, eine Verbindung begünstigen zu wollen, die in noch nicht zwei Jahren mit Kotyledos sicherem Wahnsinn und Tode endet. Nur dein Verzicht kann ihn retten.
Meine Formel ergibt in diesem Falle ein bedeutendes und im allgemeinen beglücktes Leben für ihn – soweit ich eben imstande bin, Prämissen in meine Rechnung einzuführen.
Und ich muß es dir gestehen, auch für dich kann ich ein Glück nur dann erkennen, wenn du deine Neigung einem andern schenktest.“
„Funktionata!“
„Ja, liebe, beste Lyrika.
Du willst sagen, das kannst du nicht? – Das wird die Zukunft lehren! Ich kann es schon vermuten und Kotyledo – hat ja seine Hoffnungen selbst aufgegeben. Atom hat ihm meine Berechnungen auseinandergesetzt. Freilich hält er sich noch an dich gebunden, obwohl er nie ein Wort der Werbung ausgesprochen hat; aber er weiß, daß du von seinen Gefühlen gegen dich überzeugt bist.
Deshalb hält ihn seine strenge Gewissenhaftigkeit fest bei dir, obgleich er auch weiß, daß seine Erhöhung durch dich seinen Untergang zur Folge hat.
Deine Pflicht ist es, ihm seine Freiheit und damit sein Leben zurückzugeben, indem du ihn mit aller Bestimmtheit und selbst gegen den Wunsch deines Herzens abweisest.
Und vielleicht kannst du noch ein zweites Leben beglücken. Atom …“
„Sprich mir nicht von deinem Bruder“, fuhr Lyrika auf. „Er ist es, der an diesem ganzen Kassandra-Unheil schuld ist.
Ohne ihn wärest du nie auf den Gedanken gekommen, Kotyledos Lebensgleichungen zu diskutieren, ohne ihn wären wir beide blind und glücklich geblieben.“
„Blind – ja, aber glücklich?
Wie lange wohl?
Eben die Sorge um dich, die Liebe zu dir allein trieb Atom dazu, den Schleier deiner Zukunft zu heben.“
„Und ich will keine Liebe, die erst ihre Formeln berechnen muß! Ich will in den Angelegenheiten meines Herzens frei sein, wenigstens für mein Bewußtsein.
Und ich will dies Ideal wenigstens herausretten aus dem Mechanismus dieser Welt – ich will nichts wissen, will nur hoffen und fürchten!“
„Mama, Mama!“ ertönte in diesem Augenblicke die helle Stimme Selens, der zur Nebentür des Zimmers hereingesprungen kam, den Flieggürtel noch um die Hüften; nur die hindernde Schraube hatte er abgelegt.
„Meine Fliegstunde ist aus, ich kann schon auf dem Rücken fliegen.
Guten Tag, Tante Lyrika, ich kann schon auf dem Rücken fliegen, und heut abend mache ich die Freiprobe.“
„Gut, mein Selen“, sagte die Mutter.
„Aber sieh, Mama, da kommt der Papa“, rief der Knabe weiter. „Papa und Onkel Atom! Guten Tag, Papa!
Ich kann schon auf dem Rücken fliegen.“
„Und morgen“, sagte Propion, indem er den durch den Schwimmgürtel gewichtslosen Knaben sanft an demselben in die Höhe hob und küßte, „morgen wirst du zum ersten Mal in die Hirnschule gehen.“
„Hurra“, rief Selen, „in die Hirnschule!
Bekomme ich da auch einen Kant, wie Vetter Tineol, der immer so groß damit tut?“
„Später, später, mein Sohn“, sagte Propion, indem er, während der Knabe weiterplauderte, seine Frau und Lyrika herzlich begrüßte. Förmlich erwiderte letztere Atoms Gruß, der, da er noch im Flieganzuge war, nach der Sitte der Zeit die Beine zum Willkomm kreuzte.
V EIN MITTAGBROT. DER HEIRATSANTRAG. WAS MAN IM 39. JAHRHUNDERT VON DER ZUKUNFT DACHTE
Man trat in das Speisezimmer. Die Billigkeit der künstlichen Nahrungsmittel gestattete wieder der Familie, ihren eigenen Tisch zu haben, während noch vor dreihundert Jahren selbst der Reichste nur in den allgemeinen Garküchen speisen konnte. Natürlich wurde auch der Zusammenhang der Familie und ihre Abgeschlossenheit wieder angebahnt, und es zeigte sich auch hier, wie materieller Fortschritt den sittlichen und idealen zur Folge hat.
Man setzte sich um den großen Tisch in der Mitte des Zimmers; er trug in seiner Mitte mehrere eigentümliche Gefäße, von Drähten geschmackvoll umwunden, die auf einen Druck des Fingers durch Schließung eines galvanischen Stromes in Glut versetzt wurden. Rings umher befanden sich die einfachen Rohmaterialien der Speisen, wie sie aus der Fabrik kamen, in zierlichen Schalen. Da war kein blutiger Knochen, kein rohes Fleisch zu sehen, nichts erinnerte an die kannibalischen Sitten der Vorzeit und die pflanzen- und fleischfressenden Tiere, welche Leben töten mußten, um Leben zu erzeugen.
Da wirtschafteten nicht Köchinnen und Köche stundenlang mit
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