Traumkristalle
aber auch wie dieser gehärtet werden konnte. Dieser Körper führte seiner Nützlichkeit wegen den Namen Chresim (von Ζρησιμξ = brauchbar) und fand die mannigfaltigste Anwendung in den Gewerben. Eine völlig durchsichtige, den Körper umhüllende, innen luftleere Glocke von Chresim, der „Luftschwimmgürtel“, hielt den Körper im Gleichgewicht. Nach vorn ging der Apparat keilförmig zu und diente zugleich als Schirm gegen die mit größter Geschwindigkeit durchschnittene Luft. Von ihm hingen zwei Steigbügel herab, in denen die Füße einen Stützpunkt fanden, während eine große auf der Rückseite befindliche Schraube (von gehärtetem Chresim) dem Körper eine Geschwindigkeit erteilte, deren Richtung durch geschickte Bewegungen beliebig zu lenken war. Die treibende Kraft gab eine Büchse voll flüssigen Sauerstoffs, den man bei sehr tiefer Temperatur durch einen ungeheuren Druck bis zur Kondensation komprimiert hatte und nun als lang anhaltenden Kraftvorrat verwenden konnte. Jeder hatte natürlich seine Luftschwimmschule durchgemacht, und die Eleganz des Fliegens galt nicht nur als ein Zeichen guter Erziehung.
Aus dem Fenster eines großen Gebäudes im mittleren Deutschland bewegten sich in bequemem Fluge zwei Herren. Es waren Typus Propion, den wir schon während seines Besuches bei Direktor Strudel kennengelernt haben, und sein Schwager Atom Schwingschwang, ein Chemiker von großem Rufe. Propion war Besitzer der Eiweiß- und Fettfabrik, aus welcher sie jetzt kamen. Diese sogenannten organischen Körper wurden dort, wie schon erwähnt, in reichem Maße und auf sehr billige Weise direkt aus den Elementen dargestellt. Wasser, Luft, kohlensaurer Kalk waren die hauptsächlichsten Rohmaterialien, aus denen man Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Kohlenstoff gewann und zu wohlschmeckendem künstlichem Fleisch und Brot verarbeitete.
Propion hatte Funktionata, Atoms Schwester, geheiratet, und Atom verkehrte täglich in seinem Hause und leitete die eigentlich wissenschaftliche Seite der Fabrik. In lebhaftem Gespräch flogen jetzt beide der Wohnung Propions am Gestade der Nordsee zu.
„Ich muß dir recht geben“, sagte Propion, „die Fabrik bedarf der Erweiterung, und zwar speziell zur Sauerstoff-Fabrikation. Denn ich bin überzeugt, sein Preis wird bald bedeutend steigen, er wird ein täglicher Verbrauchsartikel werden; sein Verhältnis zum Stickstoff der Atmosphäre gestaltet sich jährlich ungünstiger, seitdem wir Pflanzenwuchs nur noch in einigen Gebirgsgegenden Zentralafrikas und Asiens sowie des Nordkontinents besitzen. Übrigens müssen wir dann auch an ein anderes Herstellungsverfahren des Sauerstoffs denken, wenn wir ihn nicht mehr einfach aus der Luft erhalten können, sei es nun durch Lösen von Luft in Wasser vermöge der verschiedenen Löslichkeit von Sauerstoff und Stickstoff in demselben, sei es durch die Diffusion oder sonstwie.“
„Das wird bald gefunden sein“, fuhr Atom fort, „wir brauchen ihn nicht gerade aus der Luft zu filtrieren. Mache dir keine Sorgen, die Pflanzen sollen darum nicht geschont werden. Nichts törichter als diese Klagen der Romantiker um ihre grünen Pflänzchen. Das mochte einen Sinn haben, als man der Pflanzen bedurfte, zur Nahrung sowohl als zur Regelung der atmosphärischen Verhältnisse. Für diese haben wir jetzt besser gesorgt. Wozu also diese Winkelexistenzen ihr Dasein fortfristen lassen, während wir den Platz so nötig brauchen? Sie mögen ihre historische Bedeutung behalten, aber als solche gehören sie ein für allemal in das Gebiet der Paläontologie.“
„Gut, daß dich Kotyledo nicht hört“, antwortete Propion, „er wäre unglücklich. Ich habe ihn übrigens lange nicht gesehen. Er meidet mein Haus seit einigen Wochen, und ich glaube, Funktionata trägt die Schuld. Was ist zwischen ihnen vorgefallen?“
Atom gab eine ausweichende Antwort.
„Wer weiß“, sagte er, „was Funktionata wieder berechnet hat, Kotyledo teilt dasselbe Schicksal wie sein Steckenpferd, die Pflanzenwelt. Er gehört zu jener Menschenklasse, die auf den Aussterbe-Etat der Natur gesetzt ist; und ich muß gestehen, ich halte es einfach für Pflicht der Majorität, über solche Leute rücksichtslos hinwegzuschreiten. Ich habe mit ihm neulich ein Gespräch über seine Zukunft gehabt, vielleicht habe ich ihn verletzt. Solche Gemütsmenschen in Hemdärmeln.“
„Das ist brillant“, rief Propion, „eine Entdeckung von kolossaler Tragweite. Denke an die
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