Traumlawine
es keine Geheimnisse untereinander, und sie wollen, daß auch wir nichts zu verbergen haben.«
Mythor achtete kaum darauf.
Was geschieht am Hexenstern? dachte er. Ich muß es wissen.
Glairs Nähe verunsicherte ihn. Er fühlte den heißen Atem der Hexe in seinem Nacken. Nur zögernd gab ihre Hand ihn frei.
Mit einemmal war es wieder, als stünde er am Nabel der Welt. Er hörte Fronja reden, aber was sie sagte, bohrte sich wie die Klinge eines Dolches in sein Herz. Nie hätte er geglaubt, daß die Tochter des Kometen zu solchem fähig sein würde.
Weder sie noch Ambe schienen bemerkt zu haben, daß er ihrem Traum beiwohnte, sonst hätten sie seine Gefühle nicht dermaßen mit Füßen getreten.
»Sie verschachern deine Liebe wie eine Wagenladung faules Obst«, schimpfte Glair. »Ich könnte es nur zu gut verstehen, wenn du ungehalten reagieren würdest. Fronja ist es nicht wert, von dir begehrt zu werden.«
Abermals war die Wetterhexe ihm ganz nahe. Für Mythor verwischte der Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit, während Verzweiflung in ihm aufstieg.
Glair schien zu spüren, was in ihm vorging.
»Vergiß das Gewesene«, hauchte sie. »Ich werde dich nicht enttäuschen.«
Ihre Berührung war sanft wie der Kuß des Windes, ihr Blick eine einzige stumme Verheißung. Sollten die Tochter des Kometen und Ambe zusammen über seinen Kopf hinweg bestimmen, seine Empfindungen für Fronja würden schneller erkalten, als Hexenwerk es jemals ermöglichen konnte.
Was er gehört hatte, war wie ein Schock für ihn. Zum Glück ein heilsamer Schock.
Ohne länger zu zögern, ergriff er Glairs hilfreich dargebotene Hand, und gemeinsam verließen sie den Traum. Einige Drynen warteten in der Nähe. Mythor war nicht im geringsten überrascht.
Du wolltest die Freiheit, sagten sie auf ihre lautlose Art. Nun weißt du, wie es ist, wenn Wünsche in Erfüllung gehen.
»Habe ich das euch zu verdanken?«
»Nur dir selbst. Die Erkenntnis saß schon immer tief in dir verwurzelt. Es bedurfte nur eines wirklichen Anstoßes, um dich deinen Irrtum erkennen zu lassen.«
»Und dieser Anstoß…«
»Auch er kam von dir, Sohn des Kometen. Wir kennen deine Zweifel und wissen um die Düsternis, die deshalb auf deinem Gemüt lastet. Darum sollst du erfahren, daß wir Drynen die Gabe besitzen, das Wunschdenken anderer zu spiegeln und sie in eine Scheinwelt zu versetzen.
Kommt ein Mutloser zu uns, der sich wünscht, wieder stark und entschlossen zu werden, so vermitteln wir ihm dieses Gefühl, und er wird gestärkt von uns gehen und keine Furcht oder gar Verzweiflung mehr kennen. Manchem haben wir schon geholfen. Aber es gibt Zweifler, die niemals einen neuen Glauben finden werden, weil sie sich selbst im Weg stehen. Ihre Selbstüberschätzung kann ihnen zum Verhängnis werden. Sie sind nicht gefestigt genug, um einen neuen Anfang verkraften zu können, und sie zerbrechen an Leib und Seele.«
Wie Nuell, dachte Mythor unwillkürlich.
»Ich beginne zu verstehen, daß es die Grotte der Selbstfindung wirklich gibt«, sagte Glair. »Vielleicht ist sie rings um uns, und wir wußten es bis eben nur noch nicht.
Die Drynen sind weder gut noch böse. Mag sein, daß sie auf einer höheren Ebene stehen, auf der solche Begriffe bedeutungslos sind. Mit ihrer Fähigkeit scheinen sie die verborgensten Gefühle bloßzulegen – es kommt also immer auf den Heilsuchenden selbst an, was er daraus macht.«
Wenigstens Glair meinte es ehrlich mit ihm. Mythor fühlte wie im Rausch. Das alles schien ihm so unwirklich, daß er noch immer nicht daran glauben mochte.
Und doch war es Tatsache. Fronja spielte mit seinen Gefühlen. Anders ließ sich ihr Vorhaben nicht in Worte fassen. Mythors Blick streifte die Tochter des Kometen, die nach wie vor in ihren Traum versunken war.
»Komm!« sagte er zu Glair. »Ich halte es hier nicht mehr aus.«
Die Luft war plötzlich zu schwer zum Atmen. Die ganze fremde Umgebung wirkte bedrückend.
Glair schlang ihren Arm um seinen Nacken. Ihre Lippen suchten die seinen. Aber Mythor zuckte unwillkürlich zurück.
»Nicht«, sagte er. »Nicht jetzt.«
Ein Hauch von Enttäuschung huschte über die Züge der Wetterhexe. Sie hatte sich mehr versprochen.
»Später?«
»Vielleicht«, nickte Mythor abwesend. Er verließ den Raum und betrat den großen Saal. Die Hexe folgte ihm.
Überrascht blieb er stehen. Vieles hatte sich verändert. Das Bodenmosaik war verschwunden. An seiner Stelle wallten nun Dunstschleier in allen Farben
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