Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Hailey im Stich gelassen.
»Ich würde mir gerne alle Berufswege mal ansehen«, hatte Jules zu seinem Vorgesetzten gesagt und dabei wie ein wissbegieriger Schüler geklungen. Nach nur wenigen Sätzen hatte der Arzt nachgegeben und alles in die Wege geleitet.
»Wieso nicht genug Zeit?«, fragt Jules und fährt durch Macys Haar. Sie klammert sich fest an ihn und legt ihre Wange an seine Brust. Der Gedanke, dass er sich ihretwegen in Gefahr begibt, lässt ihr keine Ruhe.
»Du darfst noch nicht gehen«, antwortet sie schlicht und verstärkt ihren Griff. »Bitte.«
Im gleichen Atemzug kommt sie sich unglaublich egoistisch vor und ist froh, dass Jules nächste Worte die richtigen sind: »Aber ich muss. Es ist Haileys einzige Chance. Außerdem«, zärtlich hebt er ihr Kinn an und sieht ihre direkt in die Augen, »komme ich doch wieder.«
»Das kannst du nicht versprechen.«
»Aber ich kann versprechen, dass ich es unter allen Umständen versuche.«
Macy wendet ihren Blick ab. Wieso ist ihr Jules auf einmal so wichtig? Vor wenigen Wochen war er nur ihr Jugendschwarm, nun verursacht jede seiner Berührungen ein angenehmes Prickeln auf ihrer Haut, das sie nie wieder missen möchte. Sie weiß nicht wie, aber in nur wenigen Wochen ist er zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden.
»Ich werde wirklich auf mich aufpassen.«
Liebevoll streicht er ihr durchs Haar und drückt sie dann sanft von sich weg.
»Wir müssen gehen, die Sonne geht langsam unter und deine Eltern wundern sich bestimmt schon, wo du bist.«
Widerwillig stimmt Macy ihm zu und küsst ihn ein letztes Mal, bevor sie nach Hause eilt. Sie lässt Jules im leeren Innenhof zurück, doch ihre Sorgen verfolgen sie hartnäckig wie ihr eigener Schatten, der im schwindenden Sonnenlicht immer länger wird.
»Genug Zeit? Caleb, das sind weniger als vierundzwanzig Stunden! Das ist nichts !«
Kiras Stimme ist so laut geworden, dass sich einige der Insassen bereits neugierig zu ihr herumdrehen. Schnell reißt sie sich zusammen und spricht leise weiter:
»Du bist seit vierzehn Jahren hier und hast noch keinen Ausweg gefunden. Wie willst du es in einem Tag schaffen?«
»Die letzten vierzehn Jahre hatte ich sie auch nicht«, entgegnet er und nickt mit dem Kopf in Haileys Richtung.
»Mich?«, quietscht Hailey und rutscht vor Schreck fast von der Bank. »Wie soll ich denn helfen können?«
»Auf geht’s. Essenszeit ist vorbei.«
Ein lauter Schlag ertönt, als der Wächter mit seinem Metallstock auf den Tisch schlägt.
Schnell springen alle auf und räumen ihre Tabletts auf das vorgesehene Fließband.
»Abendessen«, raunt Caleb ihr zu, dann verschwindet er aus ihrem Blickfeld. Wenige Minuten später ist Hailey mit ihren wirren Gedanken allein.
» Aufsässig, resistent oder traumlos «, wiederholt sie in Gedanken und betrachtet dabei ihre Hände. Sie beschließt, sich eine Dusche zu gönnen. Auch wenn das Wasser hier nicht so warm wird wie daheim, so ist es doch nicht eiskalt. Nach dem gestrigen Mittagessen hat Hailey weiße Handtücher in ihrem Bad gefunden und sich sofort unter den Wasserstrahl gestellt.
Als Hailey jetzt ins Bad geht, liegen wieder neue Handtücher auf dem Waschbecken. Nachdenklich fährt sie mit ihren Fingern über den rauen Stoff und entkleidet sich dann. Das Wasser schießt mit hohem Druck aus dem Duschkopf und prasselt auf Haileys Haut nieder. Sie genießt das frische Gefühl, das es hinterlässt und schließt die Augen.
»Die letzten vierzehn Jahre hatte ich sie auch nicht.«
Calebs vertrauensvoller Blick taucht vor ihr auf und Hailey zuckt zusammen. Sie hat keine Ahnung, wie sie ihn retten soll.
»Wenn er schon so viele Jahre hier ist, muss er einen Ausweg kennen. Ich bin erst seit kurzer Zeit hier. Was soll ich denn machen?«
Abrupt öffnet sie ihre Augen wieder und stellt die Dusche ab. Während sie ihren zitternden Körper abtrocknet, denkt sie fieberhaft über eine Lösung nach. Das kratzige Material des Handtuchs reibt ihre Haut auf, aber sie achtet nicht darauf.
Die einzigen Gelegenheiten, mit Caleb zu reden, sind die Mahlzeiten, bei denen sie nicht völlig alleine sind. Kira scheint zwar eine starke Persönlichkeit zu haben, aber von ihr erwartet Hailey in dieser Situation keine große Hilfe. Um mit einem genialen Plan aufzuwarten, müsste sie sich von Calebs Rockzipfel lösen, an dem sie zweifelsohne hängt.
Während sie ihre zerzausten Haare im Spiegel betrachtet, überkommen sie Zweifel: Weshalb soll sie Caleb helfen? Bisher
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