Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
der dicken Staubschicht kaum mehr zu erkennen sind. Rechts unter dem Fenster zum Hof liegen vier umgekippte Stühle und ein zerfallener Holztisch.
Irgendwann einmal muss dort ein Vogel genistet haben, denn das leere Nest wurde vom Wind unter einen der Stühle geweht. Zerbrochene Eierschalen liegen herum und leuchten in einem kontrastreichen Weiß.
Wer auch immer hier einmal gewohnt hat, ist schon lange verschwunden. Aus dem Schulunterricht weiß Hailey, dass dieses Stadtgebiet schon lange abgerissen werden soll, allerdings die nötigen Mittel hierfür fehlen. In der Innenstadt dominieren Glas-Metall-Konstruktionen, welche nicht nur höher sind und somit mehr Lebensraum bieten, sondern zudem energiesparender sind.
Vor ungefähr achtzig Jahren kaufte die Regierung diesen Teil der Stadt – die sogenannte Betonhölle – um sie einzureißen und neuen Platz für teure Geschäfte und Luxusvillen zu schaffen. Allerdings waren die Umstände nicht gerade günstig. Die Einwohner wehrten sich lange, einige riskierten sogar den Tod, um ihre Heimat zu verteidigen. Sie beschafften sich illegal Traumkontrollmittel und kreierten ihr eigenes Untergrundreich, geprägt von Leid, Hunger und Elend. Immer wenn die Regierung glaubte, jetzt endlich alle vertrieben zu haben, fanden sich neue Einwohner, welche die Gebäude besetzten. Die Kostenaufstellung der Regierung ergab schließlich, dass es billiger sei, das teurere Waldstück zu kaufen und dort zu bauen, als weiterhin in den Kampf mit der Bevölkerung zu investieren. Seitdem stehen die Häuser hier leer, denn niemand hält es für nötig, deren Ruinen zu sanieren. Abgesehen davon sind sie Eigentum der Regierung.
Haileys Blick fällt wieder auf Caleb, der sie immer noch verwirrt anschaut. Vielleicht war er sich Kiras Gefühle wirklich nicht bewusst.
»Sie hatte bestimmt ihren Grund, mach dir keine Vorwürfe.«
Die Worte fühlen sich falsch und verfault in ihrem Mund an, aber Hailey weiß nicht, was sie sonst sagen soll. Wie die letzten Einwohner der Betonhölle wird auch sie alles tun, um bei Caleb zu bleiben. Diese winzige Lüge gehört dazu.
»Vielleicht kommt sie ja wieder. Wenn sie einen Peilsender bei sich trägt, ist sie sonst allein in viel zu großer Gefahr. Das würde sie doch niemals riskieren, oder?« Hoffnungsvoll sieht er zu ihr auf. Fasziniert betrachtet Hailey seine gespaltene Iris. Grün und Braun, Gras und Erde. Natur, Freiheit. »Sie braucht bestimmt nur einen Moment für sich, um sich Gedanken zu machen.«
Noch während die Worte ihre Lippen verlassen, spürt Hailey ein unangenehmen Kloß in ihrem Hals. Sie fühlt sich wie eine miese Verräterin. Dass Caleb dankbar lächelt und sich hinlegt, trägt nicht dazu bei, dieses Gefühl loszuwerden.
»Andererseits kann ich mir gar nicht sicher sein, dass ich Recht habe. Bestimmt habe ich mir Kiras Eifersucht nur eingebildet« , versucht Hailey sich zu beruhigen. Merkwürdigerweise funktioniert dieser Gedanke. Kira erwähnte mit keinem Wort, dass sie wirklich Gefühle für Caleb hat. Hailey war durch den Klinikaufenthalt durcheinander und ihre Emotionen haben verrückt gespielt. Höchstwahrscheinlich war es etwas anderes, das Kira dermaßen in Aufregung versetzt hat. Eine Banalität, die Hailey einfach entgangen ist. Ohne Caleb anzusehen, kuschelt sie sich neben ihn und schmiegt ihren Kopf mit geschlossenen Lidern an seine Brust. Sofort legt er einen Arm um ihre Schulter und drückt sie fest an sich.
Kiras Tattoo taucht vor Haileys innerem Auge auf und starrt sie vorwurfsvoll an. Erschrocken zuckt sie zusammen und öffnet die Augen wieder.
»Alles okay?« Besorgt streicht Caleb mit seinen Fingern über ihre Schulter. »Du zitterst ja.«
Als Caleb mit seiner anderen Hand durch ihr Haar streift, kann sie sich nicht mehr zurückhalten und beginnt zu schluchzen. Mit einem Mal bricht die grausame Realität über sie herein und sie wünscht sich nichts sehnlicher, als dass nur erfunden ist.
Sie wird ihre Mutter nie wiedersehen. Ihre Mutter für die sie stets eine Schande darstellte. Ihretwegen ist gestern ein Mann gestorben und ihre beste Freundin schwebt in Lebensgefahr, weil sie gegen die Regierung arbeiten. Sie planen, alles zu stürzen, woran diese Gesellschaft glaubt. Haileys Selbstzweifel und Ängste zerreißen sie förmlich. Und doch ist da ihr erster Kuss, Calebs warmer Atem in ihrem Haar und sein Herzschlag in ihrem Ohr. Diese Realität ist so widersprüchlich, dass sie sich wie in einem Albtraum gefangen
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