Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Sicherheit sagen, dass Eleonore die Wahrheit über ihren verstorbenen Mann gut aufnehmen oder gar glauben wird.
Diese Vermutung beruht allein auf ihrer unbändigen Hoffnung, endlich eine liebende Mutter zu bekommen. Zittrig setzt sie einen Fuß vor den anderen und schließt für einen Augenblick die Augen. Tausend Bilder schießen durch ihren Kopf und auf keinem davon lächelt Eleonore. Schnell öffnet Hailey die Augen und konzentriert sich auf die Straße.
Haileys Zuhause kommt in Sicht. Das Glasgebäude funkelt wie immer hell im untergehenden Sonnenlicht. Verstohlen sieht Hailey sich nach Wächtern um. Unzählige Fahrzeuge rasen an ihr vorbei, doch keines davon trägt das Wächteremblem. Auch die parkenden Autos sind unauffällig. Etwas beruhigter beschleunigt Hailey ihren Schritt. Erst als sich die Aufzugstüren hinter ihr schließen, atmet sie geräuschvoll aus. In der engen Kabine wird ihr bewusst, wie fürchterlich sie riecht. Merkwürdigerweise ist es ihr peinlich, so vor ihrer Mutter aufzutauchen. Vor ihrer perfekten, stets akkurat gestylten Mutter. Schnell versucht Hailey wenigstens den Dreck unter ihren Fingernägeln zu entfernen und so Schadensbegrenzung zu betreiben.
» Was machst du hier eigentlich? Dein Aussehen ist wirklich das kleinste Problem« , denkt sie und kratzt dennoch weiter.
Lautlos gleiten die Aufzugstüren auseinander und geben den Blick auf den leeren Korridor frei.
Unsicher tritt Hailey heraus und rechnet damit, von einem massigen Wächter auf den Boden gepresst zu werden. Nichts geschieht. Sie kann ihr Glück kaum fassen.
»Nachdem meine Mutter sich so verhalten hat, dachten die Wächter bestimmt, dass ich niemals freiwillig hierher zurückkehren würde. Wie Recht sie doch hatten.«
Wenn sie die Wahrheit über ihren Vater nicht erfahren hätte, wäre Hailey nie wieder hierher zurückgekehrt. Für sie war ihre Mutter in dem Moment gestorben, als sie ihre eigene Tochter widerstandslos den Wächtern überließ.
Doch jetzt braucht sie Eleonore wie noch nie zuvor. Außer Jules, der ja nur in der Praxis aushilft, kennt sie keinen Arzt und sie ist sich nicht sicher, ob er die nötigen Kontakte hat, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.
Immer noch bewegungslos, starrt Hailey auf das kleine Klingelschild. Ihr dreckverschmierter Finger schwebt über den Knopf. Sie wischt die schweißnasse Hand an ihrer Hose trocken und drückt dann schnell die Klingel, bevor sie es sich anders überlegen kann.
»Ich komme …«, erklingt Eleonores dumpfe Stimme. Kurz darauf zerschellt ein Glas auf dem Boden. Hailey ist überrascht und zugleich beruhigt. Offensichtlich macht ihre Abwesenheit Eleonore mehr zu schaffen, als Hailey am Anfang dachte.
Sie hört wie ihre Mutter hinter dem Türspion einen erstaunten Laut ausstößt. Die Tür öffnet sich und perfekt manikürte Finger schließen sich um Haileys Handgelenk. Mit einem Ruck wird sie nach innen gezogen und liegt in Eleonores Armen. Die sonst so beherrschte Frau fängt an, laut zu schluchzen. Sie drückt Haileys Kopf fest gegen ihre Schulter.
»Ich dachte, ich hätte dich verloren. Es tut mir so leid.«
Hailey spürt, wie die warmen Tränen ihrer Mutter auf ihre Schulter tropfen.
»Wie hast du es hierher geschafft?« Sie drückt Hailey von sich weg und begutachtet sie von oben bis unten. »Du brauchst dringend neue Kleidung. Du bist geflüchtet, oder? Ich bin so froh, dass du hier bist!«
Sie zieht Hailey wieder an sich und streicht über ihr Haar. Hailey spürt einen großen Knoten in ihrem Hals und eine eiserne Faust um ihr Herz. So viele Jahre hat sie sich genau diese Mutter gewünscht – jetzt trifft sie die Realität so hart, dass sie kaum glauben kann, wessen Hand zärtlich über ihren Rücken streichelt. Ihre bisher emotionslose Mutter ist plötzlich herzlich und lässt ihren Gefühlen freien Lauf.
Hailey ist vollkommen überfordert.
»Mama?«, fragt sie mit zittriger Stimme um sich zu vergewissern, dass das alles nicht nur ein Traum ist und sie wirklich ihrer Mutter gegenübersteht.
Eleonore nickt heftig.
»Ja, ich bin es. Es tut mir so leid, dass ich dich einfach habe gehen lassen ... Aber nach der Sache mit deinem Vater und ...«
Entsetzt hält sie inne als ihr klar wird, dass sie zum ersten Mal über ihren früheren Ehemann gesprochen hat, ohne ihn als rücksichtslosen und feigen Idiot zu beschimpfen.
»Ich weiß die Wahrheit, Mama. Es ist okay ... nur du weißt sie nicht.«
Mit einem Schlag versiegen Eleonores Tränen. Sie
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