Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
die Farben verblichen sind, erkennt sie das funkelnde Grün seiner Augen. Sie strahlen im selben Farbton wie Haileys.
»Papa?«
Sie weiß nicht, wie sie reagieren soll. Bisher hat sie nie ein Bild von ihm im Kopf gehabt. Er war mehr ein weit entferntes Gefühl, ein schemenhafter Schatten als ein echter Mensch. Dieses Foto ist der erste Beweis dafür, dass Eleonores Teil der Geschichte der Wahrheit entspricht. Der Junge blickt mit einem aufgeweckten und neugierigen Gesichtsausdruck in die Kamera, während Eleonore ihn anhimmelt. Ihre Mimik lässt keinen Zweifel daran, wie wichtig ihr der Junge an ihrer Seite ist.
Haileys Finger fahren seine Gesichtszüge nach, prägen sie sich ein. Sie versucht sich vorzustellen, wie er wohl als erwachsener Mann ausgesehen hat. Begierig blättert sie um, betrachtet die Fotos nicht mehr genauer, sondern sucht nur noch nach seinem Gesicht. Sie entdeckt ihn auf mehreren Fotos. Lächelnd, nachdenklich, glücklich, grimmig.
All die Jahre war ihr Vater für sie eine konturlose Gestalt, jetzt tritt er mit einer Wucht in ihr Leben, dass Hailey schwindelig wird.
Er hat sie gerettet.
Er kannte Caleb.
Er hat ihre Mutter aus dem Randbezirk geholt.
Er hatte wirklich grüne Augen.
Die Gesamtheit dieser Schlussfolgerungen trifft sie mit solcher Wucht, dass Hailey das Album entgleitet und mit einem lauten Schlag auf den Boden fällt.
Einige der lockeren Fotos fallen heraus und verteilen sich über den Boden. Die Kerze neben Hailey flackert unruhig. Schützend zieht sie die Knie vor die Brust. Sie will den Spuren ihres Vaters folgen, will ihn stolz machen und sein Lebenswerk vollenden, damit sein Tod nicht umsonst gewesen ist. Aber sie ist gerade mal siebzehn Jahre alt, wird von der Regierung gejagt und ist in die Vergangenheit ihrer Mutter eingedrungen. Als wäre das nicht schon genug, um damit klar zu kommen, hat sie in all dem Trubel auch noch ihr Herz verloren. An einen Jungen, dessen Situation nicht besser ist als ihre. Sie vermisst ihn. Seine humorvolle Art mit den schlechten Gegebenheiten umzugehen, hat ihr die Kraft gegeben zu kämpfen. Für ihn. Er hat in ihr den Willen geweckt, endlich etwas zu verändern. Jetzt, da er nicht an ihrer Seite ist, weiß sie nicht, wie sie weitermachen soll. Ihr fällt einfach kein raffinierter Fluchtplan ein.
»Wenn du zu ihm willst, musst du kämpfen«, flüstert sie sich selbst Mut zu. »Die Flucht aus der Klinik war auch deine Idee. Caleb glaubt an dich. Du schaffst das.«
Langsam beruhigt sie sich wieder. Das Zittern lässt nach, sie sieht wieder klarer. Ihr Vater hat etwas Großartiges geleistet und sie ist nicht gewillt, das einfach wegzuwerfen. Dass ihr Leben nicht von der Regierung kontrolliert wird, ist sein Verdienst. Ein Geschenk, welches er mit dem Tod bezahlen musste. Für ihn will sie stark sein.
»Ich werde nur noch morgen warten, Mama«, sagt sie mit fester Stimme und sieht dabei eines der Fotos an, auf dem Eleonore scheu in die Kamera lächelt. »Wenn du morgen Abend nicht hier bist, bin ich weg.«
Zufrieden darüber, dass sie endlich eine Entscheidung getroffen hat, mit der sie sich wohlfühlt, streckt sie ihre Beine wieder durch. Sie steht auf und dehnt ihren ganzen Körper. Vom Nacken bis hin zu den versteiften Zehen. Sorgfältig sammelt sie die verstreuten Fotos auf und legt sie in das Album. Dann schiebt sie die beiden Sessel zusammen, so dass sie sich auf den Sitzflächen bequem zusammenrollen kann. Da sie stets in dieser Stellung schläft, ist der begrenzte Platz für sie zwar ungewohnt, aber kein größeres Problem.
Die laue Nachtluft sorgt dafür, dass sie nicht friert. Als sie die Kerze auspusten möchte, fällt ihr Blick auf das silberne Kästchen.
»Morgen werde ich mich auch um dich kümmern.«
Mit diesen Worten macht sie es sich auf den Sesseln bequem und fällt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Elftes Kapitel
Genussvoll atmet sie die klare Luft ein. Das kleine Gerät in ihrer Hand zeigt an, dass sich das Zielobjekt ahnungslos in dem Gebäude vor ihr befindet.
Vermutlich schläft er. Sie hat Anweisung, ihn erst umzubringen, sobald das andere Mädchen bei ihm ist, denn sie ist ohne ihn nicht auffindbar. Vor einigen Stunden hat sie sich deshalb leise nach oben geschlichen und ebenso lautlos wieder nach unten, denn der Junge lag allein auf dem schmutzigen Boden. Ein leichtes Ziel. Und doch ... als sie ihn dort so schutzlos liegen sah, hatte sich etwas in ihrem Herzen geregt.
Es fühlte sich so an, als würde
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