Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
wegen unachtsamen Wächtern öffnen zu können, beflügelt Hailey.
Sie rast die Treppe wieder herunter, den provisorischen Schlüssel fest umklammert. Zitternd kniet sie sich vor dem Tisch nieder und betrachtet das Schloss. Sie hat keine Ahnung wie sie die Schraube dazu verwenden kann, um die Schatulle dazu zu zwingen, ihren Schatz preis zu geben. Nachdenklich wandert ihr Blick zwischen den beiden Gegenständen hin und her. Schließlich legt sie den Kopf schief und schiebt die Schraube in die dunkle Öffnung. Sie spürt an den Seiten mehrere Widerstände. Vorsichtig drückt sie mit der Schraube dagegen, denn genau das würde ein Schlüssel tun, wenn sie ihn hätte. Nichts geschieht.
Frustriert zieht sie das lange Stück Metall wieder heraus und versucht, in der Dunkelheit des Schlüsselloches etwas zu erkennen. Pechschwarze Finsternis ist das einzige, was sie sehen kann.
»Bitte«, flüstert sie. Dann probiert sie es erneut. Als ein leises Klicken ertönt, schüttelt Hailey den Kopf. Sie kann nicht glauben, dass es wirklich geklappt hat. Aber das Geräusch war unverkennbar und der Deckel der Schatulle hat sich ein wenig angehoben, so dass ein kleiner Spalt zu erkennen ist.
Unschlüssig zieht Hailey die Hand zurück. Jetzt da die Lösung dieses Rätsels kurz bevorsteht hat sie Angst, dass sich irgendetwas Banales in dem Kästchen versteckt und ihre Mühe umsonst war. Mit geschlossenen Augen greift sie nach dem Behälter und drückt ihn fest an sich. Die Kälte des Metalls spürt sie durch den dünnen Stoff ihres Oberteils und lässt sie frösteln.
»Okay«, spricht sie sich selbst Mut zu. Dann öffnet sie Augen und Schatulle.
Dunkelroter Samt ist das Erste, was sie wahrnimmt. Unwillkürlich erinnert die Farbe sie an dickflüssiges Blut. Der Samt bedeckt lediglich Boden und Seiten des Kästchens, jedoch nicht den Deckel, weshalb sie vermutlich etwas Klackern hören konnte. Hailey sieht genauer hin und hält den Atem ein. Eine kleine Kette mit herzförmigem Anhänger. Auf der silberglänzenden Oberfläche sind zwei Buchstaben eingraviert, die von einem Herz umschlossen werden.
L + E
Fasziniert betrachtet sie die feingeschwungenen Linien. Bevor sie genauer darüber nachdenken kann, hält sie das Schmuckstück schon in der Hand und fährt mit ihren Fingern darüber. Als diese über die Seiten wandern, spürt sie eine kleine Erhebung. Verblüfft runzelt Hailey die Stirn.
»Ein Scharnier?«
Sie klemmt einen Fingernagel in den kleinen Schlitz und drückt so die zwei Herzhälften auseinander. Für einen kurzen Augenblick ist Hailey versucht, das Medaillon vor Schreck fallen zu lassen. Nach dem gestrigen Abend sind ihr die zwei Gesichter sehr vertraut. Ein junger Mann mit schwarzen Haaren und eine Frau, deren Augen grün leuchten.
Ihre Eltern. Die Gesichter sind leicht der Mitte zugewandt, so dass es aussieht, als würden sie sich anblicken. Haileys Augen brennen vor Trauer. Sie ballt die Hand zu einer Faust und drückt sie gegen ihren Mund, um ihre schluchzenden Laute zurückzuhalten. Die beiden sehen auf den Fotos glücklich aus. Unbedarft und frei.
Nach kurzem Zögern öffnet Hailey den Verschluss der Kette und legt sie sich um den Hals. Den Anhänger lässt sie unter ihrem Oberteil verschwinden. Das kühle Metall ruht auf ihrer Haut und beruhigt sie. Endlich hat sie ein Foto ihres Vaters, das sie immer bei sich tragen kann.
Erschöpft sinkt sie auf dem Boden zusammen, den Kopf auf die Lehne des Sessels gestützt. Sie liegt mit geschlossenen Augen da und genießt die Stille. Die absolute Abgeschiedenheit legt sich um sie wie dichter Nebel und lässt sie alles vergessen, nur ein Bild tritt immer klarer aus dem Wirrwarr ihrer Gedanken hervor. Ein Gesicht mit merkwürdigen Augen, die linke Iris zweigeteilt in braun und grün.
»Caleb«, flüstert Hailey und setzt sich auf. Sie wischt sich die Tränen von den Wangen und wirft einen Blick aus dem Fenster. Die Sonne steht hoch am Himmel, doch die Straßen sind still. Der Wind wispert in den Blättern der Trauerweide und ein kleiner Vogel singt sein fröhliches Lied. Einzelne Wolken treiben träge dahin, ziellos und unbekümmert. Weiß wie frisch gefallener Schnee schmücken sie den azurblauen Himmel.
Hailey drückt die Schultern durch und erhebt sich. Sie möchte nicht länger tatenlos herumsitzen. Sorgfältig schließt sie den Deckel der Schatulle und stellt sie auf den Sessel. Dann verlässt sie das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen. Lediglich eine der
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