Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Wasserflaschen nimmt sie mit. Zielsicher geht sie auf den kleinen See zu, den sie im Fotoalbum mehrmals gesehen hat und der sich hinterm Haus befindet, kniet sich hin und betrachtet die sich kräuselnde Wasseroberfläche.
Die kleinen Wellen verzerren ihr Spiegelbild beinahe bis zur Unkenntlichkeit, nur ihre Umrisse sind verschwommen erkennbar. Mit einem Lächeln taucht sie ihre Hand in das kühle Nass und genießt die Vorstellung, dass ihre Mutter einst dasselbe getan hat.
Von einem plötzlichen Tatendrang erfasst, lässt sie den See mit schnellen Schritten hinter sich. Sie will für Caleb, Macy und ihren Vater kämpfen. Diese Menschen lieben und verlassen sich auf sie. Hailey kann sie nicht enttäuschen.
Sie begegnet niemandem, selbst die Häuser wirken als wäre seit Jahren sämtliches Leben aus ihnen gewichen. Die Fenster sind größtenteils mit morschen Brettern vernagelt und Kletterpflanzen machen sich an den Fassaden zu schaffen. Eines der Gebäude wurde von einem umgestürzten Baum eingedrückt, so dass es sein Innenleben präsentiert wie ein ausgeweidetes Tier. Zerschlagene Möbel, feuchter Holzboden, Unkraut in den Ritzen.
Die Wurzeln des umgefallen Baumes ragen nutzlos in die Luft, die Krone trägt schon lange kein Laub mehr und dennoch ist der Stamm ein Lebensgrund für viele Pilze und Ranken, die in einem bunten Mosaik die braune Rinde bedecken.
Dass die Natur diesen Teil des Randbezirkes längst zurückerobert hat, fasziniert Hailey. Auf einfache und eindrucksvolle Weise zeigt sich eine Urgewalt, welche nicht einmal die Regierung für ewig in ihre Schranken weisen kann. Irgendwann kehrt das Grün immer zurück und vernichtet alles von Menschenhand Gemachte.
Je weiter Hailey läuft, desto schneller klopft ihr Herz. Sie fürchtet sich vor ihrer ersten Begegnung mit einem Menschen, der im Randbezirk lebt.
»So schlimm können sie nicht sein. Mama ist auch hier aufgewachsen«, spricht Hailey sich selbst Mut zu. Dennoch hat sie ein flaues Gefühl im Magen, denn immerhin sind hier draußen Wächter, welche noch immer auf der Suche nach ihr sind.
»Dann fangen wir mal an.«
Jules hält einen kleinen Koffer hoch, während Macy sich mit angeekeltem Gesicht abwendet.
»Ich muss aber nicht hier bleiben, oder?«
Caleb schüttelt mitleidig den Kopf.
»Sehr gut. Bis später.«
Sie drückt Jules einen Kuss auf die Wange und rauscht davon.
»Mädchen sind so empfindlich«, witzelt Jules, doch sein Gesichtsausdruck bleibt ernst.
»Weißt du, was du tun musst?«
»Ich habe so eine Operation noch nie durchgeführt. Allerdings habe ich einen Detektor mitgebracht, der Metall aufspüren kann. Wir benutzen ihn, um Splitter bei Unfällen zu finden.« Jules holt tief Luft und stellt den Koffer neben Caleb ab. »Am besten legst du dich hin. Dann suche ich mit dem Detektor nach dem Sender. Erst dann gebe ich dir eine Betäubungsspritze. Sie bewirkt, dass du für knapp eine Stunde bewusstlos bist. In dieser Zeit entferne ich den Sender und entsorge ihn dann«, erklärt er nüchtern.
Caleb nickt bewundernd. Jules wirkt wie ausgewechselt. Mit seinen ernst dreinblickenden Augen und den konzentrierten Gesichtszügen kann Caleb ihn sich gut als Arzt vorstellen.
»Mein Leben liegt in deinen Händen«, ruft Caleb und lässt sich mit einer theatralischen Geste auf den Rücken fallen.
»Das ist nicht witzig«, ermahnt Jules ihn mit einem leichten Lächeln im Gesicht.
»Versuch einfach, mich nicht umzubringen, okay?«
Jules verdreht die Augen und schaltet den Detektor an.
»Hey, du!«
Hailey sprintet los, als hätte sie einen Schuss gehört und müsse nun um ihr Leben fürchten. Die Wasserflasche fest umklammert rennt sie die Straße entlang. Der Asphalt ist unnachgiebig und sorgt dafür, dass ihre Fußgelenke schnell anfangen zu schmerzen. Hailey beißt die Zähne zusammen und rennt weiter, obwohl ihre Lunge und ihre Seitenleiste brennen wie Feuer. Sie wird den Wächter hinter sich auf keinen Fall mit offenen Armen empfangen oder sich ihm gar stellen. Es muss ja ein Wächter sein, niemand sonst würde ihr so nachlaufen.
»Hey, jetzt bleib doch stehen!«
Die Stimme hört sich zwar atemlos, aber noch nicht völlig erschöpft an und ist Hailey so nah, dass sie verzweifelt beschleunigt, obwohl ihr ganzer Körper sich dagegen wehrt. Schweiß rinnt ihren Nacken hinab und sammelt sich zwischen den Schulterblättern. Dunkle Flecken zeichnen sich deutlich auf dem schwarzen Stoff ihres ärmellosen Oberteils ab.
»Hey!«
Ihr
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