Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
Verfolger gibt nicht auf. Fieberhaft überlegt Hailey, was sie tun soll. Anhalten kommt nach einer minutenlangen Hetzjagd nicht mehr in Frage, doch vor ihr taucht ein Wächterturm auf. Die Plattform erhebt sich über den Häuserdächern und funkelt bedrohlich im Sonnenlicht. Hailey flucht atemlos und biegt in eine düstere Seitenstraße ein. Lieber riskiert sie eine Sackgasse, als abgehetzt und völlig erschöpft noch anderen Wächtern in die Arme zu laufen. Ein rennendes Mädchen würde mit ziemlicher Sicherheit sämtliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Die Häuser stehen eng zusammen, kein Garten lockert die dichte Wand aus Steinen auf, jeder Schritt hallt unnatürlich laut wider. Offensichtlich werden in dieser Gasse Abfälle gesammelt. Unrat bedeckt den Boden und eine Mischung aus verschimmeltem Obst, halb verwestem Fleisch und Kot raubt Hailey den ohnehin schon knappen Atem. Japsend holt sie Luft, ihre Knie geben nach und sie strauchelt. Während sie fällt, bedankt sich Hailey bei ihrem Adrenalin dafür, dass es ihren Körper solange aufrechtgehalten hat.
Ihr Aufprall schleudert mehrere leere Dosen und Flaschen zur Seite. Metall kracht ohrenbetäubend laut gegen die Wände, Glas zerbricht mit einem lauten Klirren und die Scherben hüpfen über den Boden, bis sie schließlich still daliegen. Noch immer hält Hailey die Wasserflasche fest umklammert, obwohl ihre Haut an Armen und Händen nun aufgeschürft ist und Blut an ihnen herabrinnt.
Stöhnend setzt sie sich auf, die Flasche als Waffe erhoben. Durch die Wucht des Sturzes tanzen bunte Lichtpunkte vor ihren Augen und sie kann die Gestalt, die sich ihr mit erhobenen Händen langsam nähert, nur schwer erkennen. Als die schwarze Silhouette stehen bleibt, krümmt sich ihr Verfolger zusammen, die Hände auf die Knie gestützt, und atmet tief durch.
Hailey lächelt grimmig. Zumindest war sie kein leichtes Ziel.
»Was wollen Sie?«, zischt sie dem vermeintlichen Wächter zu und lässt ihre Hände unauffällig über den Boden wandern, bis sie eine Glasscherbe zu fassen bekommt. Die scharfen Kanten schneiden sie und jagen einen stechenden Schmerz durch ihren Körper, aber Hailey lässt sich nichts anmerken.
Die Scherbe gibt ihr ein beruhigendes Gefühl, mit ihr kann sie sich besser verteidigen als mit einer halb gefüllten Wasserflasche aus Plastik.
»Also?«, hakt sie fordernd nach und stützt sich auf dem rechten Arm ab, damit sie mit der linken Hand, in welcher sich die Glasscherbe befindet, sofort zuschlagen kann, falls er angreift. Sie hofft, dass er keine Schusswaffe bei sich trägt.
Zu ihrer Überraschung stimmt ihr Gegenüber jedoch nur ein von gelegentlichen Hustern unterbrochenes, raues Lachen an.
»Ich höre?«
Ihre Stimme zittert mehr als sie möchte. Ob vor Erschöpfung oder Angst vermag sie nicht zu sagen, aber sie verflucht sich für dieses Anzeichen von Schwäche.
»Mach mal langsam.«
Hailey blinzelt, als ihre Sicht wieder schärfer wird. Details treten aus der Finsternis hervor. Ihr Verfolger ist ungefähr einen Kopf größer als sie und kräftig gebaut. Sein Gesicht liegt im Dunkeln und ist für Hailey nicht erkennbar.
»Ich will dir doch nichts tun.«
»Sicher«, knurrt Hailey. »Das sagen alle Wächter.«
»Wächter?«, erwidert er mit ehrlicher Verwunderung in der Stimme. »Was hast du denn angestellt, dass du solche Angst vor den Wächtern hast?«
Haileys Verstand fängt an, fieberhaft zu arbeiten. Entweder kann sie ihm die Wahrheit offenbaren, eine denkbar schlechte Option in Anbetracht der Tatsache, dass sie nicht einmal weiß, wer ihr da gegenübersteht, oder sie lässt sich eine möglichst glaubwürdige Lüge einfallen.
»Ich mag sie einfach nicht sonderlich. Sie sind Monster«, zischt sie. Da sie ihren Beinen wieder einigermaßen vertraut, richtet sie sich auf und hebt den Kopf stolz in die Höhe.
»Monster?«, wiederholt er ungläubig und lässt erneut ein Lachen ertönen. »Du kommst nicht von hier, oder?«
»Wieso?«
»Weil du dich sonst nicht trauen würdest, so etwas zu sagen«, erwidert er mit schlagartigem Ernst.
Haileys Blick huscht unsicher umher, die Scherbe in ihrer Hand gibt ihr Sicherheit. In ihrer momentanen Situation vergisst sie jede Höflichkeit: »Wie meinst du das?«
»Man stirbt hier ziemlich schnell, wenn ... sie solch negativen Dinge vernehmen«, führt er betont langsam aus und beobachtet dabei ihre Reaktion. Hailey bemüht sich, keine Miene zu verziehen.
»Das war mir irgendwie klar«,
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