Traumlos, Band 1: Im Land der verlorenen Seelen (German Edition)
entgegnet sie schnippisch. »Du bist also kein Wächter? Was willst du dann von mir?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Sofort verkrampft sich Haileys Körper. Das scharfkantige Stück Glas bohrt sich tiefer in ihre Haut.
»Du bist ein Wächter?«
Zunächst antwortet er nicht, sondern zuckt lediglich mit den Schultern und kickt eine leere Dose von sich weg. Klappernd verschwindet sie im Schatten der Häuser.
»Jetzt sag schon!« Hailey stolpert einige Schritte zurück und hebt drohend die Scherbe nach oben, so dass sie genau in einen Lichtstrahl gerät, der durch eines der halb abgedeckten Dächer bricht. Der Lichtreflex tanzt über den Boden als Hailey das Glas dreht. Einer Eingebung folgend wendet sie ihre Waffe so, dass die Strahlen genau auf die Augen des Verfolgers treffen.
Fluchend kneift er die Augen zusammen und weicht dem Licht aus. Diese kurze Sekunde seiner Unaufmerksamkeit nutzt Hailey, um loszurennen. Nach nur wenigen Schritten hört sie, wie der Wächter die Verfolgung wieder aufnimmt. Als vor ihr ein Maschendrahtzaun auftaucht und weder rechts noch links eine Ausweichmöglichkeit besteht, wirbelt Hailey herum, die Scherbe zum Angriff bereit erhoben, jeden Muskel angespannt.
Zu ihrer Verwunderung bleibt ihr Verfolger einige Meter entfernt stehen.
Schwer atmend stehen sie sich gegenüber.
»Könntest du bitte aufhören, vor mir wegzulaufen? Ich will dir helfen.«
»Und mich in die Klinik stecken, damit ich umgebracht werde?«, braust Hailey wütend auf.
»Ah, du solltest also eigentlich in der Klinik sein. Eine Geflohene, verstehe ich das richtig?«
Vor Wut über ihr vorlautes Mundwerk beißt Hailey sich auf die Innenseite ihrer Backen.
»Vielleicht«, zischt sie.
»Das erklärt natürlich deine panische Angst.«
»Ich habe keine Angst.«
Die lange Flucht hat sie erschöpft. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich rasch, ihr Oberteil ist schweißnass. Die Feuchtigkeit lässt sie frösteln. Einige Haarsträhnen hängen ihr wirr ins Gesicht und sie streicht sie nervös mit dem Unterarm nach hinten, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen.
»Dafür siehst du aber ganz schön ängstlich aus, wenn ich das mal so sagen darf.«
»Nein, darfst du nicht«, knurrt sie und erhebt erneut drohend die Scherbe.
»Du willst mich mit einem Stück Glas aufschlitzen?« Die Überheblichkeit in seiner Stimme ist kaum zu überhören. »Ist das dein Ernst?«
»Wenn ich müsste, würde ich deine Augen auch mit meinen Fingernägeln auskratzen.«
»Oha, ein kleines Kätzchen, mmh?«
Hailey zittert, als er einen Schritt näher kommt. Sie weiß nicht, wie lange sie die Fassade der Schlagfertigkeit noch aufrecht erhalten kann. Das Bild des toten Geprägten taucht vor ihr auf. Sein warmes Blut, das noch heute an ihren Händen klebt, das Geräusch seiner splitternden Knochen, der Gestank nach Tod und Unrat. Sie ist sich nicht sicher, ob sie wirklich erneut für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich sein will.
Als habe der andere die Unsicherheit in ihren Augen aufflackern sehen, kommt er näher.
»Du könntest mich nicht verletzen. Dafür bist du zu ...«
»Unterschätz mich nicht«, unterbricht Hailey ihn. Sie schüttelt die Erinnerung an den Geprägten ab und konzentriert sich auf ihren jetzigen Gegner. Ihr Herz klopft laut und schnell. Sie will zu Caleb zurück.
»Ich habe ein Ziel und werde alles tun, um es zu erreichen. Geh zur Seite und lass mich gehen.«
»Ein Ziel?«
Er kommt noch ein Stück näher, so dass er jetzt im Sonnenlicht steht. Überrascht zuckt Hailey zusammen. Kluge Augen mustern sie abschätzig. Die Ärmel des weißen Oberteils spannen sich eng um seine muskulösen Arme. Unter dem dünnen vom Sonnenlicht beschienenen Stoff zeichnet sich sein durchtrainierter Bauch deutlich ab. Seine untere Gesichtshälfte wird von einem haselnussbraunen Dreitagebart umrahmt, der ihn deutlich älter wirken lässt als er vermutlich ist. Auch seine Haare sind von einem tiefen Braunton und hängen ihm in die Stirn.
»Sprachlos?« Er ist sich seiner Wirkung auf andere deutlich bewusst und genießt sie in vollen Zügen. Demonstrativ dehnt er seine Arme, wodurch sein breiter Rücken zur Geltung kommt. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen. »Wenn du dich wieder gefasst hast, könntest du mir ja von deinem Ziel berichten.« Seine Augen funkeln neckisch auf.
Hailey spürt, wie sie ein wenig rot wird, und wendet verärgert ihren Blick ab.
»Der Mann, den ich liebe, steckt in Schwierigkeiten und ich muss
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