Traummoerder
Stil zu formulieren. Sobald er die erste Seite fertig hatte – ein Unterfangen, das einen ganzen Tag und zwei Nächte gedauert hatte –, fühlte sich Dermot, als würde der Text wie geschmolzenes Gold dahinfließen. Arnolds grausame Welt wurde zu Dermots Phantasiewelt, während sein unbewusster Überlebensinstinkt eine Mauer errichtete, um seine geistige Gesundheit zu schützen. Er merkte, dass ihn das Weinen, die qualvollen Schreie, das endlose Flehen um Gnade und die Verzweiflung der Opfer, über die er schrieb, nicht mehr berührten – sie hatten jetzt andere Namen und starben in Australien. Sie waren nicht mehr real.
Dermot veränderte auch die Struktur des Romans. In seiner Version von Worst Nightmares wurden die Geschichten in Gesprächen zwischen einem Serienmörder und seinem Gefängnispsychologen erzählt. Die Standort- und Wegbeschreibungen blieben fast die alten. Dermot veränderte schlicht die Namen von Straßen, Orten, Hotels und Fast-Food-Läden. Das war viel einfacher, als er es sich ursprünglich vorgestellt hatte. Er richtete sich lediglich nach detaillierten Landkarten von New South Wales, dem australischen Landesteil, den er ausgewählt hatte. Die Internet-Suchmaschinen wurden seine besten Freunde.
In Dermots Version war sich der Seelenklempner ziemlich unsicher, ob die Geständnisse seines Patienten echt oder Hirngespinste waren,
Den Großteil eines jeden Kapitels bildeten die Unterhaltungen zwischen dem Psychologen Tom Sarris und dem Serienmörder, der hier Lund hieß. Auf diese Weise konnte Dermot in Lunds düsteren Gedanken stöbern, während er eine beträchtliche Portion der abscheulichen Einzelheiten der Phantasie der Leser überließ – dort gehörten sie auch hin. Während einer Analyse-Sitzung im letzten Kapitel zeigte Lund dem Psychologen sogar gruselige Fotografien, um zu beweisen, dass er der Urheber dieser Verbrechen war – Fotografien, die er bis dahin versteckt gehalten hatte. Dann rammte Lund dem Psychologen sein selbst gebasteltes Holzmesser ins Ohr; Sarris war sofort tot.
Neela hatte sich nicht die Mühe gemacht, weitere Nachforschungen über Arnolds Opfer zu betreiben. Sie fühlte sich wohl mit der Schlussfolgerung, dass sich Arnold lediglich vermisste Personen oder Opfer von unaufgeklärten Morden herausgesucht und seine Geschichten darum herumgesponnen hatte. Jetzt war Arnold tot, und sicherlich war es nicht verwerflich, wenn Dermot seine Recherchen nutzte.
Allerdings nagte ein Gedanke an ihr. Sie fand, Arnold sollte Anteil an dem Buch haben. Aber würde das die Sachlage nicht noch komplizierter machen?
Neela hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Status der Website regelmäßig zu überprüfen. Jeden zweiten Tag forschte sie nach www.worstnightmares.net ; jedes Mal war die Site nicht verfügbar.
Das Wichtigste und Erfreulichsten war für Neela jedoch, Dermots Fortschritte zu beobachten. Ihr Mann war wie neugeboren. Inspiriert. Er hatte wieder eine Aufgabe, trank nicht mehr so viel, war nicht mehr launisch, schenkte ihr wunderbaren Sex und war sehr auf ihr Wohlergehen bedacht. Er aß wie ein Scheunendrescher und sang unter der Dusche. Er arbeitete fünfzehn Stunden am Tag, stand oft schon um vier Uhr morgens auf, um sich an seinen Computer zu setzen. Weder Nick noch Neela durften das Manuskript lesen, in diesem Punkt blieb Dermot eisern – er wollte sie mit dem fertigen Buch überraschen. Je mehr er schrieb, umso zufriedener war er mit dem Ergebnis. Immer wenn Neela oder Nick versuchten, ihm wenigstens ein paar Zeilen zu entlocken – und Dermot platzte fast, weil er so stolz auf sein Projekt war –, gelang es ihm, jedes einzelne Wort für sich zu behalten.
»Es könnte die beste Arbeit werden, die ich bisher gemacht habe, Neela«, sagte er eines Tages, als er ihr anvertraute, dass er den dritten und letzten Akt des Romans in Angriff genommen hatte.
»Wann darf ich ihn lesen? Hoffentlich bald, damit ich dir noch von Nutzen sein kann.«
Als seine Lektorin bekam Neela ein neues Manuskript immer als Erste. Dann wurde es an Esther übergegeben und letztlich an den Verlag.
»Ja, bald, ganz bald.«
»Darf ich Esther wenigstens die gute Neuigkeit verkünden? Ich wimmele sie seit drei Wochen am Telefon ab und weiß nicht mehr, was ich ihr sagen soll. Ich erkläre ihr nur immer, dass du mit Schreiben beschäftigt bist und sie in Kürze etwas Wundervolles auf den Tisch bekommt. Ihre Frage lautet jedes Mal: ›Wann, Schätzchen?‹, und darauf habe ich keine
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