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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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vernichten werde.
Daß die Legionen des Teufels aus dem Osten hervorbrechen würden.
Daß Epidemien die menschliche Rasse auslöschen würden.
    Und doch ging der Schrecken vorüber. Das Jahr tausend kam und ging, und die neue »offene« Gesellschaft des Mittelalters schlug Wurzeln. Bischof Glaber schrieb ein paar wunderschöne Zeilen dazu: »Drei Jahre nach dem Jahr tausend war die Erde mit einem weißen Mantel von Kirchen bedeckt.«
    *
    Abendessen, London, 1971
    Ein sehr großer Amerikaner kam zum Abendessen. Er war auf dem Weg nach Washington und hatte eine Aufklärungsmission in Vietnam hinter sich. In der vergangenen Woche war er nach Hawaii, Guam, Tokio und Saigon geflogen. Er hatte Hanoi bei einem Bombenangriff überflogen. Er hatte mit den NATO-Generalstabschefs konferiert – und dies war sein erster freier Abend.
    Er war ein unschuldiger Mann. Beim Salat sprach er von Entlaubungsmitteln. Nie werde ich den Anblick der Himbeeren vergessen, wie sie zwischen seinen Lippen verschwanden, noch das dumpfe Geräusch der abgehackten Silben, die zwischen ihnen herausplatzten: »Die Nórdvietnamesen haben ein Dríttel bis die Hä́lfte einer Generatión ihrer wáffenfähigen jungen Mä́nner verloren. Einen sólchen Verlúst kann keíne Natión auf únbegrenzte Zeit verkráften: deshalb réchnen wir mit einem militä́rischen Sieg in Vietnám im Láufe des Jáhres 1972 …«
    *
     
    Übe keinen Druck aus auf einen Feind in höchster Not.
    Prinz Fu Ch’ai sagte: »Wilde Tiere, wenn in höchster Not, kämpfen verzweifelt. Wieviel mehr trifft das auf die Menschen zu! Wenn sie wissen, daß sie keine andere Wahl mehr haben, werden sie bis zum Tod kämpfen.«
    Sun Tze, Die 13 Gebote der Kriegskunst
    *
    Steiermark, Österreich, 1974
    Beim Bergsteigen in den Rottenmanner Tauern vor meinem Interview mit Lorenz war mein Rucksack mit seinen Büchern befrachtet. Es waren wolkenlose Tage. Ich verbrachte jede Nacht in einer anderen Alpenhütte und hatte Würstchen und Bier zum Abendessen. Die Berghänge standen in Blüte: Enzian und Edelweiß, Akelei und Türkenbund. Die Kiefernwälder lagen blaugrün im Sonnenlicht, und auf den Geröllhalden lagen noch Schneestreifen. Auf jeder Wiese waren sanftmütige braune Kühe, das Klingen von Kuhglocken hallte durch die Täler, oder das Bimmeln einer Kirchenglocke weit unten …
    Die Bergsteiger: Männer und Frauen in rotweißen Hemden und Lederhosen, und alle sagten »Grüß Gott!«, wenn sie vorbeigingen. Ein knotiger kleiner Mann hielt mich für einen Deutschen, und mit dem geilen Blick eines Pornoverkäufers schlug er seinen Jackenkragen zurück, um mir sein Hakenkreuz zu zeigen.
    *
    Beim Wiederlesen von Lorenz wurde mir klar, warum vernünftige Menschen dazu neigten, entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen: zu leugnen, daß es so etwas wie eine menschliche Natur gab, und zu betonen, daß alles erlernt werden müsse!
    »Genetischer Determinismus«, empfanden sie, bedrohe alle liberalen, menschlichen und demokratischen Impulse, an denen das Abendland noch festhielt. Sie erkannten ebenfalls, daß man mit Instinkten nicht wählerisch sein konnte: man mußte sie nehmen, wie sie kamen. Man konnte nicht Venus in das Pantheon einlassen und vor Mars die Tür verriegeln. Und sobald man »Kämpfen«, »territoriales Verhalten« und »Rangordnung« aufgriff, saß man gleich wieder im Sumpf der Reaktion des neunzehnten Jahrhunderts.
    Was im Sogenannten Bösen bei den kalten Kriegern lebhaftes Interesse weckte, war Lorenz’ Vorstellung vom »rituellen« Kampf.
    Die Supermächte müssen folglich kämpfen, weil es in ihrer Natur liegt, zu kämpfen: doch könnten sie ihre Streitigkeiten vielleicht in irgendeinem armen, kleinen, möglichst wehrlosen Land austragen – genauso wie zwei Böcke ein Stück Niemandsland aussuchen, um ihre Kräfte zu messen.
    Der amerikanische Verteidigungsminister, wurde mir berichtet, habe ein mit Anmerkungen versehenes Exemplar auf seinem Nachttisch liegen.
    Menschen sind Produkte ihrer Umgebung, und das Lernen bedingt alles, was sie je sagen oder denken oder tun werden. Kinder werden von Vorfällen in ihrer Kindheit traumatisiert, Nationen von Krisen im Verlauf ihrer Geschichte. Aber könnte diese »Konditionierung« bedeuten, daß es keine absoluten Maßstäbe gibt, die über geschichtliche Erinnerungen hinausgehen? Kein »Recht« oder »Unrecht«, ungeachtet von Rasse oder Religion?
    Hat die »Gabe der Sprache« auf irgendeine Weise den Instinkt abgetötet?

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