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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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wie »Wolf«; und daher sind die beiden Begriffe – der vom wilden Tier, das erjagt werden muß, und der vom Menschen, der als wildes Tier behandelt werden muß – eng miteinander verbunden.
    P.J. Hamilton Grierson, The Silent Trade
    *
    Nuristan, Afghanistan, 1970
    Die Dörfer in Nuristan liegen in einer so schwindelerregenden Schräge an den Berghängen, daß Leitern aus Deodarzeder als Straßen dienen müssen. Die Menschen haben helles Haar und blaue Augen und tragen Streitäxte aus Messing. Sie tragen Pfannkuchen-Hüte und kreuzweise geschnürte Riemen an den Beinen, und ihre Augenlider sind reichlich mit khol geschminkt. Alexander hielt sie irrtümlich für einen Stamm seit langem verschollener Griechen, die Deutschen für einen arischen Stamm.
    Unsere Träger waren ein unterwürfiger Haufen. Sie beklagten sich unentwegt, daß ihre armen Füße sie nicht länger tragen könnten, und warfen neidische Blicke auf unsere Stiefel.
    Um vier Uhr wollten sie unser Lager bei ein paar verfallenen Häusern im Schatten aufschlagen, aber wir bestanden darauf, das Tal weiter hinaufzuwandern. Eine Stunde später kamen wir zu einem Dorf, das von Walnußbäumen umgeben war. Die Dächer waren orangerot von Aprikosen, die in der Sonne trockneten, und Mädchen in krapproten Kleidern spielten auf einer Blumenwiese.
    Der Dorfvorsteher begrüßte uns mit einem aufrichtigen, offenen Lächeln. Dann gesellte sich ein bärtiger junger Satyr zu uns, in dessen Haar Weinblätter und Mädesüß geflochten war und der uns aus seiner Lederflasche einen Strahl herben weißen Weins anbot.
    »Hier halten wir an«, sagte ich zum Anführer der Träger.
    »Wir halten nicht an«, sagte er.
    Er hatte sein Englisch im Basar von Peshawar gelernt.
    »Wir halten an«, sagte ich.
    »Diese Menschen sind Wölfe«, sagte er.
    »Wölfe?«
    »Sie sind Wölfe.«
    »Und die Menschen in dem Dorf?« fragte ich und zeigte auf ein zweites, verkommen aussehendes Dorf etwa eine Meile stromaufwärts.
    »Sie sind Menschen«, sagte er.
    »Und das Dorf dahinter? Wölfe, nicht wahr?«
    »Wölfe«, nickte er.
    »Was für einen Unsinn du redest!«
    »Kein Unsinn, Sahib«, sagte er. »Manche Menschen sind Menschen, und andere Menschen sind Wölfe.«
    *
    Man braucht nicht sehr viel Phantasie, um sich vorzustellen, daß der Mensch als Spezies in seiner evolutionären Vergangenheit schrecklichen Prüfungen unterworfen war: die Tatsache, daß er so glänzend davongekommen ist, deutet auf das Ausmaß der Bedrohung hin.
    Dies zu beweisen, ist eine andere Sache. Doch schon vor zwanzig Jahren hatte ich den Eindruck, daß unserem an geblichen Hang zum »Brudermord« zu große Bedeutung beigemessen wurde und zu wenig der Rolle des Fleisch fressers bei der Formung unseres Charakters und Schick sals.
    *
     
    Müßte man eine allgemeine Antwort auf die Frage »Was fressen Karnivoren?« geben, es wäre sehr einfach: »Was sie bekommen können.«
    Griff Ewer, The Carnivores
    *
    Von den Kadaren, einem Stamm von Jägern im Süden Indiens, ist berichtet worden, daß ihnen Gewalt oder jede Zurschaustellung von Männlichkeit fremd war, weil sie alle ihre Antipathien nach außen auf den Tiger kanalisierten.
    *
    Nehmen wir als Gedankenspiel einmal an, wir ließen all das Gerede über Aggression beiseite und konzentrierten uns auf das Problem der »Verteidigung«. Was, wenn der Feind in den Ebenen Afrikas nicht der andere Mensch gewesen wäre? Nicht die Menschen eines anderen Stammes? Was, wenn die Adrenalinausschüttung, die den »Kampfgeist« schürt, sich entwickelt hätte, um uns vor den Raubkatzen zu schützen? Was, wenn unsere Waffen ursprünglich nicht zum Jagen von Wild dienten, sondern zur Rettung unserer eigenen Haut? Was, wenn wir nicht so sehr eine räuberische Spezies wären als vielmehr eine Spezies auf der Suche nach einem Räuber? Oder wenn an einem kritischen Punkt das Raubtier beinahe gewonnen hätte?
    *
    Hier – daran besteht kein Zweifel – liegt der große Unterschied.
    Wenn die ersten Menschen brutal, mörderisch und kannibalisch waren, wenn ihre Raubgier sie zu Taten der Auslöschung und Eroberung trieb, dann hat jeder Staat, indem er seinen Schirm der Macht ausbreitete, die Menschen vor sich selbst gerettet und müßte zwangsläufig als vorteilhaft angesehen werden. Ein solcher Staat müßte, wie bedrohlich er für den einzelnen sein mag, als ein Segen betrachtet werden. Und jede Handlung einzelner, die den Staat schwächen oder bedrohen könnte, wäre ein Schritt zurück

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