Traumpfade
Kurz: Ist der Mensch das sprichwörtliche »unbeschriebene Blatt« der Behavioristen – unendlich gefügig und anpassungsfähig?
Wenn das so ist, haben alle großen Lehrmeister dummes Zeug geredet.
Die »anstößigste« Stelle im Sogenannten Bösen – die, de rentwegen er als »Nazi!« ausgebuht wurde – ist jene, in der Lorenz das festgelegte Bewegungsmuster beschreibt, das bei Männern beobachtet werden kann, deren Kampfeswut angestachelt wurde: »Der Kopf wird angehoben, das Kinn vorgestreckt … die Arme werden etwas seitlich angehoben …Unser ›heiliger Schauer‹ … ist nichts anderes als das Sträuben unseres nur mehr in Spuren vorhandenen Pelzes … Man fühlt sich aus allen Bindungen der alltäglichen Welt heraus-und emporgehoben …«
Und doch … die Mutter, die ihr Kind wütend verteidigt, gehorcht – so wollen wir hoffen! – dem Ruf des Instinkts und nicht den Ratschlägen irgendeines Leitfadens für mütterliches Verhalten. Und wenn man das Vorhandensein von Kampfverhalten bei Frauen als gegeben annimmt, warum dann nicht auch bei Männern?
Instinkte sind Pascals »Gründe des Herzens, von denen die Vernunft nichts weiß«. Und an »Herzensgründe« zu glauben, ist dem Reaktionär überhaupt kein Trost – eher das Gegenteil!
Ohne Religion ist, laut Dostojewkijs berühmter Formulierung, alles erlaubt. Ohne Instinkt wäre alles gleichermaßen erlaubt.
Eine vom Instinkt befreite Welt wäre ein weitaus tödlicherer und gefährlicherer Ort als alles, was die »Aggressions-Hetzer« sich ausdenken könnten, denn es wäre ein Limbus, wo eins durch das andere ersetzt werden könnte: gut könnte schlecht sein, Sinn Unsinn, Wahrheit Lüge und Stricken keineswegs moralischer als Kindestötung; und ein Mensch könnte durch Gehirnwäsche dazu gebracht werden, zu denken, zu sagen oder zu tun, was den jeweiligen Mächten gefallen könnte.
Ein Folterer kann einem Mann die Nase abschneiden; aber hat der Mann die Möglichkeit, ein Kind zu zeugen, wird sein Kind mit einer Nase auf die Welt kommen. So ist es auch mit dem Instinkt! Ein Kern unveränderlicher Instinkte im Menschen bedeutet, daß die Gehirnwäscher ihr Werk der Entstellung immer wieder von neuem beginnen müssen, bei jedem Individuum und bei jeder Generation – und das ist letzten Endes ein sehr mühsames Unternehmen.
Die Griechen glaubten, daß der Reichweite menschlichen Verhaltens Grenzen gesetzt seien: nicht, wie Camus darlegte, daß diese Grenzen nie überschritten würden, sondern nur, daß sie existierten und daß jeder, der die Hybris hatte, über sie hinauszugehen, vom Schicksal zugrunde gerichtet würde!
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Lorenz vertritt den Standpunkt, daß es im Leben eines jeden Tieres bestimmte Krisen – oder einen instinktiven Rubikon – gibt, wenn es den Ruf erhält, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Diesem Ruf wird es nicht unbedingt Folge leisten, denn wenn das »natürliche« Angriffsobjekt für sein Verhalten fehlt, wird das Tier auf ein Ersatzobjekt ausweichen – und deformiert aufwachsen.
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Jede Mythologie hat ihre eigene Version vom »Helden und seinem Weg der »Prüfungen«, in der ein junger Mann ebenfalls einen »Ruf« erhält. Er reist in ein fernes Land, wo ein Riese oder ein Ungeheuer die Bevölkerung zu vernichten droht. In einem übermenschlichen Kampf überwältigt er die Kräfte der Finsternis, beweist seinen Mannesmut und erhält seine Belohnung: eine Frau, einen Schatz, Land, Ruhm.
An all dem erfreut er sich bis ins vorgeschrittene Alter, wenn abermals dunkle Wolken heraufziehen. Wieder überkommt ihn die Ruhelosigkeit. Wieder bricht er auf: entweder wie Beowulf, um im Kampf tödlich verwundet zu werden, oder, wie der blinde Teiresias Odysseus weissagte, um zu irgendeinem geheimnisvollen Ziel aufzubrechen und zu verschwinden.
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»Katharsis«: griechisch für »Sühnung«, »Reinigung«. Eine umstrittene Etymologie leitet es vom griechischen katheiro ab, »das Land von Ungeheuern befreien«.
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Mythos ist Angebot, Handlung ist Entscheidung. Der Heldenzyklus ist ein unveränderliches Paradigma für das »ideale« Verhalten eines Mannes. (Man könnte natürlich auch eines für die Heldin aufstellen.)
Jeder Teil des Mythos entspricht, wie ein Glied in einer Verhaltenskette, einem der klassischen Zeitalter des Menschen. Jedes Zeitalter beginnt mit einer neuen zu überwindenden Hürde oder einer zu erduldenden Prüfung. Das Ansehen des Helden steigt proportional zum Erfolg, mit dem er dieser Reihe von
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