Traumpfade
in urzeitliches Chaos.
Wenn die ersten Menschen dagegen erniedrigt, ausgeraubt und belagert wurden und ihre Gemeinschaften klein und zersplittert waren, wenn sie ständig den Horizont absuchten, von wo Hilfe kommen konnte, sich ans Leben und in den Schrecken der Finsternis aneinanderklammerten – könnten dann nicht alle besonderen Eigenschaften, die wir »menschlich« nennen (Sprache, Singen, gemeinsame Nahrungseinnahme, Schenken, Heirat untereinander), das heißt, alle freiwilligen guten Taten, die die Gesellschaft im Gleichgewicht halten, die die Gewaltanwendung unter ihren Mitgliedern unterdrücken und die nur wirken können, wenn Ausgeglichenheit die Regel ist – könnten sie nicht alle als Strategeme fürs Überleben entstanden sein, gegen eine ungeheure Übermacht ersonnen, um die Gefahr des Aussterbens abzuwenden? Wären sie darum weniger instinktiv oder richtungslos? Würde eine allgemeine Theorie der Verteidigung nicht besser erklären, warum Angriffskriege auf Dauer nicht zu führen sind? Warum die Tyrannen nie gewinnen?
*
Altenberg, Österreich, 1974
Es war zu heiß in Lorenz’ Arbeitszimmer, und so zogen wir in ein Sommerhaus im Garten um. Über der Stadt erhob sich das mittelalterliche Schloß Greiffenstein: eine Bastion des christlichen Europas gegen die vorrückende Welt asiatischer Reiter. Als ich ihn so auf seinem Heimatboden sah, wurde mir klar, daß seine Ansichten über das Kämpfen in gewisser Weise davon beeinflußt worden sein mußten, daß er aufgewachsen war in einer Gegend, die Zentrum eines ungeheuren geopolitischen Dramas gewesen war.
Warum, fragte ich ihn, fanden immer noch so viele die Instinkttheorie, wenn auf den Menschen angewandt, so unverdaulich?
»Es gibt gewisse Dinge«, sagte er, »gegen die man einfach nichts tun kann, und dazu gehört auch die Dummheit.«
»Bitte unterbrechen Sie mich, wenn ich mich irre«, sagte ich, »aber wenn Sie in einem Tier ein System von Verhaltensweisen isolieren, lautet die erste Frage ›Wozu?‹. Wie könnte dies oder das dazu beigetragen haben, daß die Art in ihrem ursprünglichen Habitat erhalten blieb?«
»Richtig«, nickte er.
»Ein Rotkehlchen«, sagte ich und spielte damit auf eines seiner Experimente an, »das ein anderes Rotkehlchen oder auch nur ein Stück roten Flausch erblickt, geht zum Angriff über, weil Rot ›territorialer Rivale‹ signalisiert.«
»Ja, so ist es.«
»Also wird das Kämpfen bei einem Rotkehlchen durch den Anblick seiner eigenen Art ausgelöst?«
»Natürlich.«
»Und warum muß dann, wenn Menschen kämpfen, einer der beiden Kämpfenden ›weniger‹ Mensch sein? Glauben Sie nicht, daß ›wütende Angriffslust‹, wie Sie es nennen, als eine Abwehrreaktion gegen wilde Tiere entstanden sein könnte?«
»Das ist möglich«, antwortete er nachdenklich. »Das könnte gut sein. Die Massai in Kenia trommeln, bevor sie einen Löwen jagen, auf ziemlich künstliche Weise die Angriffs lust herbei. Bei den Nazis war es die Marschmusik … Ja. Der Kampf kann sich vorwiegend aus der Abwehr wilder Tiere entwickelt haben. Schimpansen führen beim Anblick eines Leoparden eine wunderschöne kollektive Aggressionsshow auf.«
»Aber sind Sie sicher«, beharrte ich, »daß wir die Begriffe ›Aggression‹ und ›Verteidigung‹ nicht vermischt haben? Haben wir es nicht mit zwei völlig verschiedenen Mechanismen zu tun? Einerseits gibt es die ›aggressiven‹ Rituale, die bei Menschen Schenken, Vertragsabschlüsse und eheliche Vereinbarungen bedeuten. Und dann gibt es die ›Verteidigung‹, sicherlich gegen das wilde Tier?«
Alle Kriegspropaganda, fuhr ich fort, gehe von der Voraussetzung aus, daß man den Feind zu etwas Bestialischem, Gottlosem, Krebsartigem und so weiter herabsetzen müsse. Oder aber die Kämpfer mußten sich selbst in Ersatzraubtiere verwandeln – in diesem Fall waren Menschen ihre legitime Beute.
Lorenz zupfte an seinem Bart, warf mir einen forschenden Blick zu und sagte, ob ironisch oder nicht, werde ich nie erfahren:
»Was Sie soeben gesagt haben, ist vollkommen neu.«
32
E ines Morgens, als ich mit Rolf und Wendy frühstückte, kam ein hochgewachsener Mann ohne Hemd auf uns zugeschlendert.
»Welch eine Ehre!« sagte Rolf. »Big Foot Clarence. Vorsitzender des Cullen-Rats.«
Der Mann hatte dunkle Haut und eine ziemlich birnenförmige Figur, und seine Füße waren riesig. Ich gab ihm meinen Stuhl. Er setzte sich und blickte finster.
»Wie geht’s dir?« fragte Rolf.
»In Ordnung«,
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