Traumpfade
heimwärts.
Es floß ein Rinnsal darin, und am Ufer wuchsen Büsche. Ich befeuchtete mein Gesicht und ging weiter. Ich hatte mein rechtes Bein angehoben, um den nächsten Schritt zu machen, als ich mich sagen hörte: »Ich bin dabei, auf etwas zu treten, das wie ein grüner Kiefernzapfen aussieht.« Was ich da noch nicht gesehen hatte, war der Kopf einer Riesenbraunschlange, die, bereit, zuzubeißen, sich hinter einem Busch emporreckte. Ich legte den Rückwärtsgang ein und zog mich zurück, sehr langsam … eins … zwei … eins … zwei. Auch die Schlange zog sich zurück und glitt in ein Erdloch. Ich sagte mir: »Du bist ganz ruhig« – bis ich von Wellen der Übelkeit erfaßt wurde.
Um halb zwei war ich wieder in Cullen.
Rolf sah mich von oben bis unten an und sagte: »Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, mein Freund.«
Wiege dich, mein Baby, in des Baumes Wipfel
Wenn der Wind weht, wiegt die Wiege im Gipfel
Wenn der Ast bricht, wird die Wiege fallen
Herunter stürzt das Baby, mit Wiege und mit allem.
*
Daß der Mensch eine wandernde Spezies ist, wird meines Erachtens durch ein Experiment bestätigt, daß in der Tavistock-Klinik in London durchgeführt und von Dr. John Bowlby in seinem Buch Attachment and Loss beschrieben wurde.
Jedes normale Baby schreit, wenn es allein gelassen wird; um es zu besänftigen, nimmt die Mutter es am besten in die Arme und wiegt es oder »wandert« mit ihm herum, bis es wieder zufrieden ist. Bowlby bastelte eine Maschine, die den Gang einer Mutter, das Tempo und die Bewegungen, perfekt imitierte. Er stellte fest, daß das Baby, vorausgesetzt, es war gesund, satt und hatte es warm, sofort zu schreien aufhörte. »Die ideale Bewegung«, schrieb er, »ist eine vertikale, mit einer Verschiebung von zehn Zentimetern.« Langsames Wiegen, zum Beispiel dreißigmal pro Minute, hatte keine Wirkung: aber wenn man das Tempo auf fünfzigmal und mehr steigerte, hörte jedes Baby mit dem Schreien auf und blieb dann fast immer still.
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Tagaus, tagein – ein Baby kann vom Wandern nicht genug bekommen. Und wenn Babys instinktiv danach verlangen, daß mit ihnen gegangen wird, dann mußte auch die Mutter in der afrikanischen Savanne wandern: von einem Lager zum andern bei ihrer täglichen Nahrungssuche, zum Wasserloch und zu Besuchen bei Nachbarn.
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Affen haben Plattfüße, wir haben Fußgewölbe. Professor Napier zufolge ist der menschliche Gang ein ausgreifendes, federndes Schreiten – 1 … 2 … 1 … 2 … – mit einem vierfachen Rhythmus, der auf die Bewegung der Füße abgestimmt ist, sobald sie mit dem Boden in Berührung kommen – 1, 2, 3, 4 … 1, 2, 3, 4 … Aufsetzen der Fersen. Verlagerung des Gewichts auf die Außenkante des Fußes. Von da auf den Fußballen. Abfedern mit dem großen Zeh.
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Ich stelle mir – vollkommen ernst – die Frage, wie viele Schuhsohlen, wie viele Ochsenhautsohlen, wie viele San dalen Alighieri im Verlauf seines dichterischen Werks abgelaufen hat, während er über die Ziegenpfade Italiens wanderte.
Das Inferno und insbesondere das Purgatorio rühmen den menschlichen Gang, das Maß und den Rhythmus der Schritte, den Fuß und seine Form. Der Schritt, mit dem Atem verbunden und vom Gedanken gesättigt, ist für Dante der Anfang der Prosodie.
Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante
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Melos: griechisch für »Glied«, daher »Melodie«.
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Und denke wie die langsam schreitende Seele …
John Donne, »The Second Anniversarie«
Ein weißer Forscher in Afrika, der es eilig hatte, voranzukommen, bezahlte seine Träger für eine Anzahl von Gewaltmärschen. Aber sie, fast an ihrem Ziel angekommen, stellten die Bündel ab und weigerten sich, weiterzugehen. Keine noch so hohe zusätzliche Geldsumme konnte sie umstimmen. Sie erklärten, sie müßten warten, bis ihre Seelen sie eingeholt hätten.
Den Buschmännern, die riesige Entfernungen in der Kalahari-Wüste zurücklegen, ist der Gedanke an das Überleben der Seele in einer anderen Welt fremd. »Wenn wir sterben, sterben wir«, sagen sie. »Der Wind verweht unsere Fußspuren, und das ist unser Ende.«
Träge, seßhafte Völker wie die alten Ägypter – mit ihrer Vorstellung von einer Reise durch das Schilfgras nach dem Tod – projizieren die Reisen in die nächste Welt, die sie in der hiesigen nicht gemacht haben.
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London, 1965
Der Mann, der mit Mr. Rasikh zum Abendessen kam, war ein gründlich geschrubbter Engländer mit beginnender Glatze, rosa wie ein gesundes Baby
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