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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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seiner Nacktheit, und sagte mit kaum geöffneten Lippen: »Gehe die ganze Zeit zu Fuß durch die ganze Welt.«
    Ich überließ ihn seiner Träumerei und ging weiter. Der Spinifex war dichter denn je. Manchmal gab ich fast die Hoffnung auf, einen Weg hindurch zu finden, aber es führte, wie ein Ariadnefaden, immer ein Weg hindurch.
    Als nächstes erlag ich der Versuchung (der Versuchung, einen Igel anzufassen), meine Hand auf einen Busch zu legen: sofort war meine Hand mit zentimeterlangen Dornen gespickt, und zwar schon, bevor ich auch nur damit gerechnet hatte. Als ich sie nacheinander herauszog, erinnerte ich mich an das, was Arkady gesagt hatte: »In Australien ist alles dornig. Selbst ein Goanna hat den Mund voller Dornen.«
    Ich kletterte über das Geröll einer Böschung und kam oben an einer scharfen Felskante heraus. Sie sah wirk lich wie der Schwanz einer Perenty-Echse aus. Dahinter lag eine Hochebene mit ein paar Bäumen an einem aus getrockneten Wasserlauf. Die Bäume hatten keine Blätter. Sie hatten eine rauhe graue Rinde und winzige schar lachrote Blüten, die wie Blutstropfen auf den Boden fie len.
    Ich setzte mich erschöpft in den Halbschatten einer der Bäume. Es war höllisch heiß.
    Nicht weit entfernt riefen zwei Würger, schwarz und weiß wie Elstern, im Wechselgesang durch eine Schlucht. Der eine Vogel hob den Schnabel und stieß drei lange, gellende Töne aus, denen drei ansteigende kurze Laute folgten. Dann nahm der Rivale den Refrain auf und wiederholte ihn.
    »So einfach ist das«, sagte ich zu mir selbst. »Notenaustausch über eine Grenze hinweg.«
    Ich lehnte an dem Baumstamm, Arme und Beine von mir gestreckt, ließ ein Bein über die Böschung baumeln und trank in gierigen Zügen aus der Wasserflasche. Jetzt verstand ich, was Rolf mit Dehydration meinte. Es war Wahnsinn, den Berg weiter hinaufzugehen. Ich würde den Weg, den ich gekommen war, wieder zurückgehen müs sen.
    Die Würger waren verstummt. Schweiß strömte über meine Augenlider, so daß alles verschwommen und unproportioniert wirkte. Ich hörte lose Steine die Böschung hinabkullern, blickte auf und sah ein Ungeheuer auf mich zukommen.
    Es war ein riesiger Waran, der Herr der Berge, Perenty in Person. Er muß etwa zwei Meter lang gewesen sein. Seine Haut war hellockergelb und hatte eine dunklere, braune Musterung. Die lilafarbene Zunge züngelte aus dem Maul. Ich erstarrte. Er kroch langsam vorwärts: ich hatte keine Ahnung, ob er mich gesehen hatte. Seine Klauen glitten wenige Zentimeter von meinem Stiefel entfernt vorbei. Dann machte er eine vollständige Drehung und schoß mit einem plötzlichen Satz dahin zurück, von wo er gekommen war.
    Die Perenty-Echse hat ein beängstigendes Gebiß, ist für den Menschen jedoch ungefährlich, solange sie nicht in die Enge getrieben wird: tatsächlich ist Australien, sieht man von Skorpionen, Schlangen und Spinnen ab, außergewöhnlich gutartig.
    Und doch haben die Aborigines ein Bestiarium von Ungeheuern und Kobolden geerbt: mit ihnen drohen sie ihren Kindern oder quälen die jungen Männer während der In itiationszyklen. Ich erinnerte mich an Sir George Greys Beschreibung vom Boly-yas: eine schlappohrige Erscheinung, auf tückischere Weise rachsüchtig als alle anderen Kreaturen, die das Fleisch verzehrte, aber die Knochen liegen ließ. Ich erinnerte mich an die Regenbogenschlange. Und ich erinnerte mich an das, was Arkady über den Manu-manu gesagt hatte: ein Yeti-ähnliches Geschöpf mit Reißzähnen, das sich unter der Erde bewegte, nachts um die Lager strich und sich mit unvorsichtigen Fremden davonmachte.
    Die ersten Australier, überlegte ich, hatten sicher wirkliche Ungeheuer wie zum Beispiel den Thylacaleo oder »Beutellöwen« gekannt. Es gab auch eine zehn Meter lange Perenty-Echse. Doch die australische Megafauna konnte es keineswegs mit den Schrecken des afrikanischen Buschs aufnehmen.
    Ich begann mich zu fragen, ob die gewalttätige Seite des Aborigine-Lebens – die Blutrache und die blutigen Initiationsriten – von der Tatsache herrühren mochte, daß sie keine richtigen Raubtiere kannten, mit denen sie es aufnehmen mußten.
    Ich erhob mich schwerfällig, kletterte über den Bergrükken und blickte auf die Cullen-Siedlung hinab.
    Ich glaubte, einen leichteren Weg nach unten entdeckt zu haben, der es mir ersparte, die Schluchten zu durchqueren. Der »leichte Weg« erwies sich als ein Felssturz, aber ich kam unversehrt unten an und ging an einem Bachbett entlang

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