Traumpfade
irgendeine Weise wurde das Geld aus Sydney oder Melbourne immer für Aborigine-Genossenschaften abgezweigt, während Mrs. Lacey auf der Stelle und in bar zahlte. Ihre »Boys« wußten, was für sie von Vorteil war, und kamen immer wieder in die Buchhandlung zurück.
Wir folgten Stan nach drinnen.
»Du kommst zu spät, Dummkopf!« Mrs. Lacey rückte ihre Brille zurecht.
Er ging zwischen zwei Kunden und dem Bücherregal langsam auf ihren Tisch zu.
»Du solltest am Dienstag kommen«, sagte sie. »Der Mann aus Adelaide ist gestern bei mir gewesen. Jetzt müssen wir einen ganzen Monat warten.«
Die Kunden waren ein Paar amerikanischer Touristen, die sich überlegten, welchen von zwei Farbbildbänden sie sich kaufen sollten. Der Mann hatte ein gebräuntes, sommersprossiges Gesicht und trug blaue Bermudas und ein gelbes Sporthemd. Die Frau war blond, mit einem hübschen, aber etwas angespannten Gesicht, und sie trug ein mit Aborigine-Motiven bedrucktes rotes Batikkleid. Die Bücher waren Australian Dreaming und Tales of the Dreamtime .
Old Stan legte das Paket auf Mrs. Laceys Tisch. Sein Kopf schwankte hin und her, während er eine Entschuldigung murmelte. Sein muffiger Geruch erfüllte den Raum.
»Dummkopf!« Mrs. Lacey hob die Stimme. »Ich habe es dir tausendmal gesagt. Der Mann aus Adelaide will nicht Gideons Bilder. Er will deine.«
Arkady und ich blieben in einiger Entfernung im Hintergrund bei dem Bücherregal mit den Aborigine-Titeln stehen. Die Amerikaner waren hellhörig geworden und lauschten.
»Ich weiß, über Geschmack läßt sich nicht streiten«, fuhr Mrs. Lacey fort. »Er sagt, daß du der beste Maler in Popanji bist. Er ist ein großer Sammler. Er muß es ja wissen.«
»Tatsächlich?« fragte der Amerikaner.
»Tatsächlich«, sagte Mrs. Lacey. »Ich kann alles verkaufen, was Mr. Tjakamarra produziert.«
»Könnten wir etwas sehen?« fragte die Amerikanerin. »Bitte?«
»Das kann ich nicht entscheiden«, erwiderte Mrs. Lacey. »Da müssen Sie den Künstler fragen.«
»Können wir?«
» Können sie?«
Stan zitterte, zuckte mit den Achseln und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
»Sie können«, sagte Mrs. Lacey süß lächelnd und schnitt mit ihrer Schere die Plastikhülle auf.
Stan nahm die Hände vom Gesicht, ergriff das eine Ende der Leinwand und half Mrs. Lacey, sie zu entrollen.
Das Bild war ungefähr einen Meter zwanzig auf ein Meter groß und hatte einen pointillistischen Hintergrund in verschiedenen Ockertönen. In der Mitte war ein großer blauer Kreis, um den mehrere kleine Kreise verstreut waren. Jeder Kreis hatte einen scharlachroten Rand, und alle waren durch ein Gewirr von flamingorosa Schlangenlinien, die ein bißchen wie Eingeweide aussahen, miteinander verbunden.
Mrs. Lacey setzte ihre zweite Brille auf und sagte: »Was haben wir da, Stan?«
»Honigameise«, flüsterte er mit heiserer Stimme.
»Die Honigameise«, sagte sie, an die Amerikaner gewandt, »ist eines der Totems in Popanji. Dieses Bild ist ein Honigameisen-Traum.«
»Ich finde es wunderschön«, sagte die Amerikanerin gedankenschwer.
»Ist das eine Art normale Ameise?« fragte der Amerikaner. »Eine Art Termite?«
»Nein, nein«, sagte Mrs. Lacey. »Eine Honigameise ist etwas ganz Besonderes. Honigameisen ernähren sich vom Mulgasaft. Der Mulga ist ein Baum, den wir hier in der Wüste haben. Den Ameisen wachsen Honigbeutel auf ihrem Hinterteil. Sie sehen aus wie helle Plastikblasen.«
»Tatsächlich?« sagte der Mann.
»Ich habe sie gegessen«, sagte Mrs. Lacey. »Köstlich!«
»Ja«, seufzte die Amerikanerin. Sie hatte ihre Augen auf das Bild geheftet. »Auf seine Art ist es wirklich wunderschön!«
»Aber ich kann in diesem Bild keine Ameisen sehen«, sagte der Mann. »Wollen Sie etwa sagen, daß es wie … daß es ein Bild von einem Ameisennest ist? Daß diese rosa Röhren so etwas wie Gänge sind?«
»Nein.« Mrs. Lacey blickte leicht entmutigt. »Das Bild stellt die Reise des Honigameisen-Ahnen dar.«
»Dann ist es so was wie eine Straßenkarte?« grinste er. »Ja, ich hab’ mir gleich gedacht, daß es wie eine Straßenkarte aussieht.«
»Genau«, sagte Mrs. Lacey.
Die amerikanische Ehefrau öffnete und schloß mittlerweile mehrmals die Augen, um zu sehen, welchen Eindruck das Bild auf sie machen würde, wenn sie sie schließlich offenhielt.
»Wunderschön!« wiederholte sie.
»Nun, Sir!« wandte sich der Mann an Stan. »Essen auch Sie diese Honigameisen?«
Stan nickte.
»Nein! Nein!«
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