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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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zog ihn dann wieder zurück.
    Ich hielt diese Vorstellung für Augenwischerei: ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß der alte Mann Karten lesen könnte. Aber dann spreizte er den Zeigefinger und den Mittelfinger zu einem V und fuhr mit ihnen das Blatt hinauf und herunter, wie mit einem Stechzirkel, wobei er schnell und lautlos die Lippen bewegte. Wie Arkady mir später erklärte, maß er eine Songline aus.
    Alan nahm eine Zigarette von Big Tom entgegen und rauchte wortlos.
    Nach ein paar Minuten kam ein klappriger Lastwagen angefahren, mit zwei weißen Männern in der Fahrerkabine und einem schwarzen Farmarbeiter, der an der Ladeklappe kauerte. Der Fahrer, ein dünner Mann mit einem vom Wetter zerfurchten Gesicht, Koteletten und einem fettigen braunen Hut, stieg aus und gab Arkady die Hand. Es war Frank Olson, der Besitzer der Middle-Bore-Ranch.
    »Und das hier«, sagte er und zeigte auf seinen jüngeren Begleiter, »ist mein Partner Jack.«
    Beide Männer trugen Shorts und schmierige Sweatshirts und bis zu den Knöcheln reichende Stiefel ohne Schnürsenkel und ohne Socken. Ihre Beine waren schorfig und von Dornen und Insekten zerstochen. Weil sie so grimmig und entschlossen aussahen, ging Arkady in die Defensive. Seine Sorge war unbegründet. Olson wollte nur wissen, wo die Eisenbahnstrecke verlaufen sollte.
    Er hockte sich vor die Karte. »Laß mal sehen, was die Kerle vorhaben«, sagte er wütend.
    In den letzten beiden Wochen, erzählte er uns, hätten die Bulldozer eine breite Lichtung durch den Busch gezogen, direkt bis an seinen südlichen Grenzzaun. Wenn sie weiter an der Wasserscheide entlangführen, würden sie sein Auffangsystem kaputtmachen.
    Auf der Karte bog die geplante Strecke jedoch nach Osten ab.
    »Puuh!« sagte Olson, schob seinen Hut in den Nacken und wischte sich den Schweiß mit der Hand ab. »Natürlich ist keiner auf die Idee gekommen, mich zu informieren.«
    Er sprach von fallenden Rindfleischpreisen, von der Dürre und den toten Tieren überall. In einem guten Jahr hatten sie dreißig Kubikzentimeter Regen. In diesem Jahr hatten sie bisher zwanzig gehabt. Würde es auf achtzehn runtergehen, könne er seinen Laden dichtmachen.
    Arkady bat Olson um die Erlaubnis, neben einem seiner Dämme das Lager aufschlagen zu dürfen.
    »Mir ist es recht!« sagte er, verdrehte die Augen und zwinkerte Alan zu. »Fragen Sie lieber den Boß.«
    Der alte Mann verzog keine Miene, aber ein schwaches Lächeln sickerte durch die Wellen seines Barts.
    Olson stand auf. »Bis bald«, sagte er. »Kommen Sie morgen auf einen Schluck Tee herein.«
    »Machen wir«, sagte Arkady. »Danke.«
    Der Abend lag in goldene Stille getaucht, als wir einen Staubstreifen an der Straße erblickten. Es war Marian.
    Sie kam angefahren, am Steuer ihres alten grauen Landrover, zwischen den Hütten hindurch, und hielt knapp fünfzig Meter vor unserer Feuerstelle. Zwei stämmige Frauen, Topsy und Gladys, quetschten sich aus der Kabine heraus, vier dünnere Frauen saßen hinten. Sie sprangen herunter, wischten sich den Staub ab und dehnten und streckten sich.
    »Du kommst spät«, schalt Arkady sie scherzhaft.
    Ihre Wangen waren vor Müdigkeit eingefallen.
    »Du wärst auch spät gekommen«, sagte sie lachend.
    Seit sie Alice Springs verlassen hatte, war sie dreihundert Meilen gefahren, hatte einen Jungen behandelt, der von einem Skorpion gestochen worden war, hatte ein Baby mit Durchfall mit Arznei versorgt, hatte einem Ältesten einen vereiterten Zahn gezogen, hatte eine Frau genäht, die von ihrem Mann geschlagen worden war, hatte den Mann genäht, der von seinem Schwager geschlagen worden war.
    »Und jetzt«, sagte sie, »sterbe ich vor Hunger.«
    Arkady holte ihr ein Brötchen und einen Becher Tee. Er hatte Angst, sie könnte zu müde sein, um weiterzufahren. »Wir können die Nacht über bleiben, wo wir sind«, sagte er.
    »Nein, danke !« sagte sie. »Bloß weg von hier.«
    Sie trug wieder das schäbige geblümte Kleid. Sie setzte sich auf die vordere Stoßstange, pflanzte ihre Beine weit gespreizt auf den Boden und stopfte sich das Brötchen zwischen die Zähne. Ich wollte sie ansprechen, aber sie sah direkt durch mich hindurch und lächelte das Lächeln einer Frau, die mit Frauenangelegenheiten beschäftigt ist.
    Sie trank ihren Tee aus und gab den Becher Arkady zurück. »Ich brauche zehn Minuten«, sagte sie. »Dann können wir fahren.«
    Sie schlenderte davon und bespritzte sich mit Wasser aus dem Hydranten in der

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