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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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Tom in die Rippen.
    »Was ist das für ein Traum?« fragte ich.
    »Ein kleiner.« Er krümmte den Zeigefinger, um einen Ringelwurm zu imitieren.
    »Witchetty?«
    Er schüttelte energisch den Kopf und sagte, indem er eine Bewegung machte, als ob er sich einen Wurm in den Mund steckte: »Kleiner.«
    »Raupe?«
    »Ja!« sagte er strahlend und stieß mich nun seinerseits in die Rippen.
    Die Straße führte zu einem weißen Haus. Es stand inmitten einer Baumgruppe, hinter der sich ein paar Gebäude erstreckten. Das war die Middle-Bore-Ranch. Kastanienbraune Pferde grasten auf einem von knochenweißem Gras bedeckten Feld.
    Wir bogen links in einen kleineren Weg ein, überquerten einen Wasserlauf und hielten am Tor meines zweiten Aborigine-Lagers. Es machte keinen so verwahrlosten Eindruck wie Skull Creek. Es lagen weniger Flaschenscherben herum, es gab weniger eiternde Hunde, und die Kinder sahen viel gesünder aus.
    Obwohl es spät am Nachmittag war, schlief noch fast alles. Eine Frau saß unter einem Baum und sortierte Buschnahrung, und als Arkady sie begrüßte, blickte sie zu Boden und starrte auf ihre Zehen.
    Wir bahnten uns einen Weg zwischen den Hütten hindurch und fuhren im Zickzack zwischen Spinifexbüschen auf den Rumpf eines Volkswagenbusses zu. Über der Tür war eine grüne Plane ausgebreitet, und aus einem Stück Plastikschlauch fielen Tropfen auf ein Beet mit Wassermelonen. An den Bus angekettet war der übliche bissige Hund.
    »Alan?« Arkady hob die Stimme und übertönte das Gekläff.
    Keine Antwort.
    »Alan, bist du da? … Mein Gott«, sagte er mit flüsternder Stimme, »hoffentlich ist er nicht schon wieder unterwegs.«
    Wir warteten noch eine Weile, dann tauchte eine lange schwarze Hand am Rand der Plane auf. Ihr folgte gleich darauf ein sehniger Mann mit silbrigem Bart, der einen hellgrauen Stetson, schmutzige weiße Hosen und ein mit Gitarren bedrucktes purpurrotes Hemd trug. Er war barfuß. Er trat ins Sonnenlicht, sah geradewegs durch Arkady hindurch und senkte majestätisch den Kopf.
    Der Hund bellte weiter, und er gab ihm einen Tritt.
    Arkady sprach Warlpiri mit ihm. Der alte Mann hörte sich an, was er zu sagen hatte, senkte wieder den Kopf und zog sich hinter die Plane zurück.
    »Er erinnert mich an Haile Selassie«, sagte ich, als wir davongingen.
    »Aber grandioser.«
    »Viel grandioser«, stimmte ich ihm zu. »Er kommt doch mit, oder?«
    »Ich glaube, ja.«
    »Kann er englisch sprechen?«
    »Kann er schon, tut er aber nicht. Englisch ist nicht seine Lieblingssprache.«
    Die Kaititj, erzählte mir Arkady, hatten das Pech gehabt, in der Nähe der Überland-Telegrafenlinie zu leben, und waren daher früh in Berührung mit den Weißen gekommen. Sie lernten auch, Messer und Speerspitzen aus den Glaskonduktoren anzufertigen, und um dieser Praxis ein Ende zu machen, wurde es für notwendig erachtet, ihnen eine Lehre zu erteilen. Die Kaititj nahmen an ihren Mördern Rache.
    Früher am Nachmittag waren wir am Grab eines Telegrafisten, das an der Straße lag, vorbeigekommen. Er war 1874 von einem Speer tödlich verwundet worden und hatte eben noch Zeit gehabt, seiner Frau in Adelaide einen Abschiedsgruß durchzugeben. Die Repressalien der Polizei dauerten bis nach 1920 an.
    Alan hatte als junger Mann mit angesehen, wie sein Vater und seine Brüder niedergeschossen wurden.
    »Und Sie sagen, daß er als einziger übriggeblieben ist?«
    »Von seinem Klan«, sagte er. »In diesem Teil des Landes.«
    Wir saßen, mit dem Rücken zueinander, an den Stamm eines Gummibaums gelehnt, und beobachteten, wie das Lager lebendig wurde. Mavis und Ruby waren fortgegangen, um ihre Freundinnen zu besuchen. Big Tom war eingenickt, und Timmy saß mit gekreuzten Beinen da und lächelte. Die Erde war ausgedörrt und rissig, und ein dichter Strom von Ameisen zog zielstrebig wenige Zentimeter von meinen Stiefeln entfernt vorbei.
    »Wo zum Teufel bleibt Marian?« sagte Arkady plötzlich. »Sie hätte schon vor Stunden hier sein sollen. Nun ja, trinken wir Tee.«
    Ich holte etwas Reisig aus dem Dickicht und machte ein Feuer, während Arkady die Sachen für den Tee auspackte. Er gab Timmy ein Schinkenbrötchen. Timmy verschlang es gierig, verlangte noch eins und reichte mir mit der Gebärde eines Mannes, der es gewohnt ist, bedient zu werden, seinen Teekessel zum Füllen.
    Das Wasser war am Kochen, als plötzlich ein schrecklicher Tumult im Lager ausbrach. Frauen kreischten, Kinder und Hunde gingen eilig in Deckung, und wir

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