Traumpfade
sahen eine rotbraune Staubsäule auf uns zurasen.
Der Wirbelwind kam tosend und krachend näher; er sog Blätter, Zweige, Plastiktüten, Papier und Blechreste auf, schleuderte sie in einer Spirale in den Himmel, fegte dann über das Lagergelände und weiter zur Straße.
Ein oder zwei Augenblicke Panik – und alles war wieder normal.
Nach einer Weile gesellte sich ein Mann mittleren Alters in einem himmelblauen Hemd zu uns. Er trug keinen Hut. Die steifen grauen Borsten auf seinem Kopf waren so lang wie die Borsten an seinem Kinn. Sein offenes, lächelndes Gesicht erinnerte mich an das meines Vaters. Er hockte sich auf sein Gesäß und schaufelte löffelweise Zucker in seinen Becher. Arkady redete. Der Mann wartete, bis er geendet hatte, und antwortete mit einem kaum hörbaren Flüstern, wobei er mit dem Finger Diagramme in den Sand zeichnete.
Dann entfernte er sich und ging zu Alans Wohnbus.
»Wer war das?« fragte ich.
»Der Neffe des alten Mannes«, sagte er. »Und gleichzeitig sein ›Ritualmanager‹.«
»Was wollte er?«
»Uns prüfen.«
»Haben wir bestanden?«
»Ich glaube, wir können mit einem Besuch rechnen.«
»Wann?«
»Bald.«
»Ich wünschte, ich würde diese Sache mit dem ›Ritualmanager‹ verstehen.«
»Es ist nicht einfach.«
Der Rauch vom Feuer blies in unsere Gesichter, aber wenigstens hielt er die Fliegen fern.
Ich holte mein Notizbuch hervor und legte es auf mein Knie.
Der erste Schritt, sagte Arkady, bestehe darin, zwei weitere Aborigine-Ausdrücke zu verstehen: kirda und kutungurlu .
Der alte Alan war kirda: das heißt, er war der »Besitzer« oder »Boß« des Landes, das wir besichtigen wollten. Er war für dessen Erhaltung verantwortlich und mußte sicherstellen, daß seine Lieder gesungen und die Rituale zur rechten Zeit vollzogen wurden.
Der Mann in Blau hingegen war Alans kutungurlu, sein »Manager« oder »Helfer«. Er gehörte einem anderen totemistischen Klan an und war ein Neffe – ob ein echter oder ein »gewählter«, spielte keine Rolle – aus Alans Familie von der mütterlichen Seite. Das Wort kutungurlu selbst bedeutete »Verwandter mütterlicherseits«.
»Der ›Manager‹«, sagte ich, »hat also immer einen anderen Traum als der Boß?«
»Ja.«
Beide erfreuten sich der Riten des anderen in beider Länder, und sie arbeiteten im Team zusammen, um sie zu erhalten. Die Tatsache, daß »Boß« und »Manager« selten Männer gleichen Alters waren, hatte zur Folge, daß das Ritualwissen über Generationen nach unten weitergegeben wurde.
In früheren Zeiten glaubten die Europäer, daß der »Boß« tatsächlich der Boß und der »Manager« eine Art Helfershelfer sei. Das stellte sich als Wunschdenken heraus. Aborigines selbst übersetzten kutungurlu manchmal mit »Polizist« – was eine viel genauere Vorstellung von ihrer Beziehung vermittelte.
»Der ›Boß‹«, sagte Arkady, »kann ohne Erlaubnis seines ›Polizisten‹ kaum einen Schritt tun. Nehmen Sie den Fall von Alan hier. Der Neffe sagt mir, sie seien beide in großer Sorge, daß die Eisenbahn eine wichtige Traumstätte zerstören werde – die ewige Ruhestätte des Eidechsen-Ahnen. Aber er, nicht Alan, entscheidet, ob sie mit uns kommen werden oder nicht.«
Das Magische an dem System sei, fügte er hinzu, daß die Verantwortung für das Land letztlich nicht bei dem »Besitzer« liege, sondern bei einem Angehörigen des benachbarten Klans.
»Und umgekehrt?« fragte ich.
»Natürlich.«
»Und das würde einen Krieg zwischen Nachbarn ziemlich problematisch machen?«
»Schach und matt«, sagte er.
»Es wäre so, als ob Amerika und die Sowjetunion sich darauf einigen würden, ihre jeweilige Innenpolitik auszutauschen – «
»Pst!« flüsterte Arkady. »Sie kommen.«
20
D er Mann in Blau kam mit gemessenen Schritten durch das Spinifexgestrüpp auf uns zu. Alan ging ein paar Schritte hinter ihm. Er hatte seinen Stetson tief in die Stirn gezogen. Sein Gesicht war eine Maske aus Zorn und Selbstbeherrschung. Er setzte sich neben Ar kady, kreuzte die Beine und legte sein Gewehr auf seine Knie.
Arkady rollte die Vermessungskarte auf und beschwerte sie an den Rändern mit Steinen, damit sie nicht von den Windstößen hochgewirbelt wurde. Er zeigte auf verschiedene Berge, Straßen, Bohrlöcher, Zäune – und die mögliche Eisenbahnstrecke.
Alan sah mit der Gelassenheit eines Generals bei einer Stabsbesprechung zu. Hin und wieder wies er mit einem fragenden Finger auf ein Detail auf der Karte und
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