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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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schliefen ein.
    »Sie müssen etwas für Sie übrig haben«, sagte Arkady. »Das war ihre Art, sich für das Essen zu bedanken.«
    Wir zündeten eine Sturmlampe an und setzten uns auf ein paar Campingstühle in einiger Entfernung vom Feuer. Was wir gesehen hatten, sagte er, sei natürlich nicht der wirkliche Eidechsensong, sondern eine »falsche Fassade«, ein für Fremde aufgeführter Sketch. Der wirkliche Song hätte jedes Wasserloch benannt, aus dem der Eidechsenmann trank, jeden Baum, aus dem er einen Speer schnitzte, jede Höhle, in der er schlief, und hätte die ganze lange Wegstrecke umfaßt.
    Er hatte das Pidgin viel besser verstanden als ich. Dies ist die Version, die ich damals notierte:
    Der Eidechsenmann und seine Frau brachen auf, um an die südliche See zu wandern. Die Frau war jung und schön und hatte eine viel hellere Haut als ihr Mann. Sie überquerten Sümpfe und Flüsse, bis sie bei einem Berg haltmachten – dem Berg bei Middle Bore –, und dort verbrachten sie die Nacht. Am nächsten Morgen kamen sie am Lager von ein paar Dingos vorbei, wo eine Mutter einen Wurf von jungen Hunden säugte. »Ha!« sagte der Eidechsenmann. »Ich werde mich an diese Hündchen erinnern und sie später essen.«
    Das Paar wanderte weiter, an Oodnadatta vorbei, am Eyre-See vorbei, und gelangte bei Port Augusta ans Meer. Ein scharfer Wind wehte vom Meer herüber, und der Eidechsenmann fror und begann zu zittern. Er sah auf einer Landspitze in der Nähe das Lagerfeuer von ein paar Bewohnern des Südens brennen und sagte zu seiner Frau: »Geh hinüber zu diesen Leuten und borge dir einen Feuerstock.«
    Sie ging, doch einer der Männer aus dem Süden, den es nach ihrer helleren Haut gelüstete, verführte sie – und sie willigte ein, bei ihm zu bleiben. Er machte seine eigene Frau heller, indem er sie von Kopf bis Fuß mit gelbem Ocker einschmierte, und schickte sie mit dem Feuerstock zu dem einsamen Wanderer. Erst als die Ockerfarbe abgegangen war, entdeckte der Eidechsenmann seinen Verlust. Er stampfte mit den Füßen auf. Er schwoll vor Zorn an, aber da er ein Fremder in einem fernen Land war, war er machtlos und konnte keine Rache nehmen. Unglücklich machte er sich mit seiner häßlicheren Ersatzfrau auf den Heimweg. Unterwegs hielt er an, um die Dingohündchen zu töten und zu verspeisen, aber sie verursachten ihm Verdauungsstörungen und machten ihn krank. Als sie den Berg bei Middle Bore erreichten, legte er sich hin und starb …
    Und das war, wie uns der Mann in Blau erzählt hatte, der Platz, wo er war.
    Arkady und ich saßen da und sannen nach über diese Geschichte einer australischen Helena. Die Entfernung von hier nach Port Augusta betrug in der Luftlinie rund elfhundert Meilen. Das war ungefähr doppelt so weit, rechneten wir aus, wie die Entfernung von Troja nach Ithaka. Wir versuchten uns eine Odyssee vorzustellen mit einem eigenen Vers für jede Abweichung und jeden Irrweg auf der zehnjährigen Reise des Helden.
    Ich blickte zur Milchstraße hinauf und sagte: »Man könnte ebensogut die Sterne zählen.«
    Die meisten Stämme, fuhr Arkady fort, sprachen die Sprache ihrer unmittelbaren Nachbarn, daher gab es keine Verständigungsschwierigkeiten über eine Grenze hinweg. Es sei jedoch ein Geheimnis, wie ein Mann vom Stamm A, der an einem Ende einer Songline lebte, den Stamm Q ein paar Takte singen hören konnte und, ohne ein Wort von Qs Sprache zu kennen, genau wußte, welcher Landstrich gesungen wurde.
    »Mein Gott!« sagte ich. »Wollen Sie mir erzählen, daß der alte Alan die Lieder eines tausend Meilen entfernten Landes kennt?«
    »Höchstwahrscheinlich.«
    »Ohne je dortgewesen zu sein?«
    »Ja.«
    Ein paar Ethnomusikologen, sagte er, hätten sich mit dem Problem beschäftigt. Vorerst wäre es jedoch das beste, wenn wir uns selber ein kleines Experiment ausdächten.
    Angenommen, wir fänden in der Nähe von Port Augusta einen Songmann, der den Eidechsensong kannte? Angenommen, wir könnten ihn dazu bringen, seine Verse auf ein Tonband zu singen, und dann spielten wir das Band Alan im Kaititj-Land vor? Es sei durchaus möglich, daß er die Melodie sofort erkennen würde – so, wie wir die Mondschein-Sonate wiedererkannten –, daß ihm der Sinn der Wörter jedoch entgehe. Auf jeden Fall würde er sehr aufmerksam die melodische Struktur verfolgen. Vielleicht würde er uns sogar bitten, ihm ein paar Takte noch einmal vorzuspielen. Und dann würde er sich plötzlich im Einklang fühlen und imstande

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