Traumpfade
sehr schönes Tier. Hat einen Wolf als Großvater! Meine Frau hat sie zu den besten Chow-Chow-Hunden in Bayern gebracht, um sie decken zu lassen. Sie hat alle abgewiesen … und sich dann mit einem Schnauzer gepaart!«
Wir saßen in seinem Arbeitszimmer, wo ein weißer Kachelofen war, ein Aquarium, eine Spielzeugeisenbahn und ein Hirtenstar, der in seinem Käfig Radau machte. Wir begannen mit einem Rückblick auf seinen Werdegang.
Im Alter von sechs Jahren hatte Lorenz Bücher über Evolution gelesen und war ein überzeugter Darwinist geworden. Später, als Student der Zoologie in Wien, spezialisierte er sich auf »vergleichende Anatomie« von Enten und Gänsen, um bald festzustellen, daß in ihren Genen wie bei allen anderen Tieren auch Blöcke oder Paradigmen instinktiven Verhaltens programmiert waren. Das Balzritual der Wildente war eine sorgfältig geplante Operation. Der Vogel wedelte mit dem Schwanz, schüttelte den Kopf, hüpfte vorwärts und reckte den Hals – er vollführte eine Reihe von Bewegungen, die, einmal in Gang gesetzt, ihren vorhersehbaren Lauf nahmen und von seiner Natur genausowenig zu trennen waren wie seine Schwimmfüße oder sein glänzender grüner Kopf.
Lorenz stellte ebenfalls fest, daß diese angeborenen motorischen Verhaltensmuster durch den Vorgang der natürlichen Selektion verändert worden waren und beim Überleben der Arten eine wichtige Rolle gespielt haben mußten. Sie konnten wissenschaftlich gemessen werden, so, wie anatomische Veränderungen zwischen einer Art und der nächsten gemessen werden konnten.
»Und auf diese Weise habe ich die Ethologie entdeckt«, sagte er. »Niemand hat sie mir beigebracht. Ich glaubte, sie wäre etwas Selbstverständliches für alle Psychologen, denn ich war ein Kind und hatte großen Respekt vor anderen Menschen. Ich hatte nicht begriffen, daß ich einer der Pioniere war.«
»Aggression«, wie Lorenz sie definierte, war der Instinkt bei Tieren und Menschen, einen Rivalen der eigenen Art zu suchen und zu bekämpfen – wenn auch nicht unbedingt zu töten. Sie hatte die Funktion, die ausgeglichene Verbreitung einer Spezies in ihrem Habitat sowie die Weitergabe der Gene des »Fähigsten« an die nächste Generation sicherzustellen. Das Kampfverhalten war keine Reaktion, sondern ein »Trieb« oder »Appetenzverhalten«, das sich – wie der Hungertrieb oder der Sexualtrieb – steigerte und entweder an einem »natürlichen« Objekt oder, war dieses nicht vorhanden, an einem Sündenbock abreagiert werden mußte.
Anders als der Mensch kämpften wilde Tiere selten bis auf den Tod. Vielmehr »ritualisierten« sie ihre Streitigkeiten, indem sie Zähne, Gefieder, Kratzspuren vorführten oder bestimmte Laute erzeugten. Der Eindringling – vorausgesetzt natürlich, daß er der schwächere Eindringling war – erkannte diese Signale als »Betreten verboten« – und zog sich, ohne eine Szene zu machen, zurück.
Ein besiegter Wolf zum Beispiel brauchte nur seinen Nacken zu zeigen, und der Sieger konnte von seiner Überlegenheit keinen Gebrauch machen.
Lorenz präsentierte Das sogenannte Böse als die Erkenntnisse eines erfahrenen Naturwissenschaftlers, der eine Menge über das Kampfverhalten von Tieren wußte und einer Menge Kämpfe zwischen Menschen beigewohnt hatte. Er hatte als Ordonnanzoffizier an der russischen Front gedient. Er hatte Jahre in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager verbracht und war zu dem Schluß gekommen, daß der Mensch ein »gefährlich aggressiver Artgenosse« sei. Krieg als solcher sei der kollektive Ausbruch seines frustrierten Kampftriebes: ein Verhalten, das ihm geholfen habe, die schlimmen Zeiten im Urwald zu überleben, das im Zeitalter der Wasserstoffbombe jedoch tödlich sei.
Unser fataler Irrtum – oder Sündenfall – betonte er, bestehe darin, »künstliche Waffen« statt natürliche Waffen entwickelt zu haben. Als Spezies mangele es uns daher an instinktiven Hemmungen, die die »professionellen Karnivoren« daran hinderten, ihre Artgenossen zu töten.
Ich hatte erwartet, in Lorenz einen Menschen von altmodischer Höflichkeit vorzufinden, der in engstirnigen Überzeugungen befangen war, der die Ordnung und Vielfältigkeit des Tierreichs bewunderte und beschlossen hatte, die schmerzhafte, chaotische Welt menschlicher Kontakte zu meiden. Ich hätte mich nicht gründlicher irren können. Hier war ein Mensch, verwirrt wie jeder andere, der ungeachtet seiner bisherigen Überzeugungen dem nahezu kindlichen Zwang
Weitere Kostenlose Bücher