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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Chatwin
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sein, den »Un-Sinn« mit seinen eigenen Wörtern zu übersingen.
    »Seine eigenen Wörter für das Land von Port Augusta?«
    »Ja«, sagte Arkady.
    »Und das geschieht tatsächlich?«
    »Ja.«
    »Und wie zum Teufel funktioniert es?«
    Niemand, sagte er, wisse es genau. Manche Leute meinten, es sei Telepathie. Aborigines selbst erzählten Geschichten von ihren Songmännern, die im Trancezustand die Linie auf- und abrasten. Aber es gab eine andere, erstaunlichere Möglichkeit.
    Ungeachtet der Wörter scheine die melodische Kontur des Lieds die Natur der Landschaft zu beschreiben, durch die das Lied führe. Wenn also der Eidechsenmann sich über die Salzpfanne des Eyre-Sees schleppe, könne man eine Folge langgezogener Halbtöne erwarten wie in Chopins Trauermarsch. Wenn er die Hänge der MacDonnell-Kette hinauf- und hinabkröche, seien es eine Reihe von Arpeggios und Glissandos wie in Liszts Ungarischen Rhapsodien.
    Bestimmte Tonfolgen, bestimmte Kombinationen musikalischer Noten beschrieben offensichtlich die Taten der Füße des Ahnen. Eine Tonfolge bedeute »Salzpfanne«, eine andere »Flußbett«, »Spinifex«, »Sandhügel«, »Mul gabusch«, »Felsoberfläche« und so weiter. Ein erfahre ner Songmann, der sie in ihrer Reihenfolge höre, könne zählen, wie oft sein Held einen Fluß überquert oder ei nen Bergkamm erklettert habe – und ausrechnen, an welcher Stelle und wie weit auf einer Songline er sich befinde.
    »Er könnte ein paar Takte hören«, sagte Arkady, »und sagen: ›Das ist Middle Bore‹ oder ›Das ist Oodnadatta‹ – wo der Ahne dies oder das oder jenes tat.«
    »Eine musikalische Tonfolge«, sagte ich, »ist demnach ein kartographischer Hinweis?«
    »Musik«, sagte Arkady, »ist eine Datenbank, die einem hilft, seinen Weg durch die Welt zu finden.«
    »Ich werde etwas Zeit brauchen, um das zu verdauen.«
    »Sie haben die ganze Nacht«, sagte er lächelnd. »Mit den Schlangen!«
    Das Feuer auf dem anderen Lagerplatz loderte noch, und wir hörten das gutturale Lachen der Frauen.
    »Schlafen Sie gut«, sagte er.
    »Sie auch.«
    »Ich habe mich noch nie so amüsiert«, sagte er, »wie mit meinen alten Männern.«
    Ich versuchte zu schlafen, aber es gelang mir nicht. Der Boden unter meinem Schlafsack war hart und höckrig. Ich versuchte, die Sterne um das Kreuz des Südens zu zählen, aber meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Mann in Blau zurück. Er erinnerte mich an jemanden. Mir fiel ein Mann ein, der eine nahezu identische Geschichte mimisch vorgeführt hatte, mit den gleichen Tierbewegungen. Einmal, es war in der Sahelzone, hatte ich ein paar Tänzer dabei beobachtet, wie sie die Sprünge von Antilopen und den Stelzgang von Störchen nachahmten. Aber das war nicht die Erinnerung, nach der ich suchte.
    Dann fiel es mir ein.
    »Lorenz!«

22
    A n dem Nachmittag, als ich Konrad Lorenz begegnete, arbeitete er in seinem Garten in Altenberg, einer Kleinstadt an der Donau nicht weit von Wien. Ein heißer Ostwind blies von der Steppe herüber. Ich war gekommen, um ihn für eine Zeitung zu interviewen.
    Der »Vater der Ethologie« war ein knorpeliger Mann mit einem silbernen Spatenbart, eisblauen Augen und einem von der Sonne rosig gebrannten Gesicht. Sein Buch Das sogenannte Böse hatte die liberale Öffentlichkeit auf beiden Seiten des Atlantiks schockiert – und war ein »Geschenk« für die Konservativen. Seine Feinde hatten damals einen halbvergessenen Aufsatz ausgegraben, der 1942, im Jahr der »Endlösung«, veröffentlicht worden war. Lorenz hatte darin seine Instinkttheorie in den Dienst der Rassenbiologie gestellt. 1973 hatte er den Nobelpreis bekommen.
    Er machte mich mit seiner Frau bekannt, die ihren Korb mit Unkraut absetzte und kühl unter dem Rand ihres Strohhuts hervorlächelte. Wir machten höflich Konversation – über die Schwierigkeit, Veilchen zu vermehren.
    »Meine Frau und ich«, sagte er, »kennen uns seit der Kindheit. Wir haben in den Büschen Iguanodons gespielt.«
    Er ging den Weg zum Haus voran – eine prächtige neobarocke Villa, die sein Vater, ein Chirurg, in der guten alten Zeit von Kaiser Franz Joseph erbaut hatte. Als er die Haustür öffnete, stürzte eine Meute feingliedriger Bastarde mit braunem Fell heraus, die ihre Pfoten auf meine Schultern legten und mir das Gesicht ableckten.
    »Was sind denn das für Hunde?« fragte ich.
    »Pariahunde!« murmelte er grimmig. » Aach ! Ich hätte den ganzen Wurf getötet! Sehen Sie den Chow-Chow da drüben? Ein

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