Traumpfade
Zimmer, setzte sich auf den Bettrand und teilte ihr die Nachricht mit.
»Wir haben es geschafft«, sagte er.
»Grandfather’s Country« war auf Platz drei der nationalen Hitparade. Die Band sollte das Hauptprogramm in The Place in Sydney bestreiten. Kosten für Flug und Hotelübernachtung wurden übernommen.
»Oh!« sagte sie und ließ ihren Kopf auf das Kissen zurückfallen. »Ich bin froh. Du hast es verdient. Wirklich, glaub mir. In jeder Hinsicht.«
Graham hatte sich darauf eingelassen, das erste Konzert in Sydney am 15. Februar zu geben – und hatte in seiner Eile, den Vertrag zu unterschreiben, alle anderen Überlegungen beiseite geschoben.
Er vergaß – oder tat, als hätte er vergessen –, daß die Regenfälle im Februar einsetzten und daß der Februar der Monat der Initiationsriten war. Er vergaß, daß sein Freund Mick in den Bandikut-Klan aufgenommen werden sollte. Und er hatte die Tatsache verdrängt, daß er, Graham, in einem Augenblick des Überschwangs eingewilligt hatte, mit ihm zusammen initiiert zu werden.
Initiationszeremonien werden überall auf der Welt als symbolische Kämpfe inszeniert, bei denen der junge Mann – um seine Virilität und »Ehefähigkeit« zu beweisen – seine Sexualorgane vor den Fängen eines blutdürstigen Ungeheuers entblößen muß. Das Messer des Beschneiders ist ein Ersatz für die Reißzähne des Raubtiers. Bei den australischen Aborigines schließen die Pubertätsriten auch »Kopfbeißen« ein – wobei die Ältesten an den Schädeln der jungen Männer nagen oder sie mit geschärften Speerspitzen bearbeiten. Manchmal reißen sich die jungen Männer ihre Fingernägel selbst ab und kleben sie mit ihrem Blut wieder an.
Die Zeremonie findet im geheimen statt, an einer Traumstätte, fern von den Blicken Fremder. Anschließend, in einer durch Schmerzen unvergeßlich gemachten Sitzung, werden den Initiierten, die währenddessen über schwelendem Sandelholzfeuer hocken müssen, heilige Verse eingehämmert. Dem Rauch werden anästhetische Eigenschaften nachgesagt, die zum Ausheilen der Wunden beitragen sollen.
Wenn ein junger Mann seine Initiation hinausschiebt, riskiert er, in einem leblosen, asexuellen Limbus zu stranden – sich ihr gänzlich zu entziehen war noch bis vor kurzem undenkbar. Die Zeremonie kann sich über Wochen, wenn nicht Monate hinziehen.
Lydia äußerte sich etwas vage über das, was vorgefallen war. Graham war, so schien es, in rasender Sorge, daß sie ihr erstes Konzert verpassen würden: Mick machte eine fürchterliche Szene und beschuldigte Graham, ihn im Stich zu lassen.
Schließlich einigten sich alle auf einen Kompromiß: Graham würde nur zum Schein »beschnitten« werden, und Mick sollte erlaubt werden, seine Isolationszeit zu verkürzen. Er durfte nach Popanji zurückgehen, um mit der Band zu üben, aber er mußte mehrere Stunden am Tag mit den Ältesten an Sitzungen teilnehmen. Auch versprach er, nicht eher als zwei Tage vor dem Konzert wegzugehen.
Zunächst verlief alles ohne Hindernis, und am 7. Februar, kaum daß Mick wieder gehen konnte, kehrten er und Graham in die Siedlung zurück. Das Wetter war feucht und drückend, und Mick bestand darauf, in hautengen blauen Jeans zu proben. In der Nacht zum 9. Februar wachte er aus einem Alptraum auf und stellte fest, daß die Wunde schrecklich vereitert war.
Daraufhin brach Graham in Panik aus. Er packte die ganze Tonanlage und die Musiker in den Volkswagen und brach noch vor Morgengrauen nach Alice auf.
Als Lydia am Morgen aufstand, fand sie ihr Haus von einer wütenden Sippe umzingelt. Einige schwangen Speere und beschuldigten sie, die Ausreißer versteckt oder ihnen zur Flucht verholfen zu haben. Zwei Wagenladungen Männer gingen auf Verfolgungsjagd, um Mick zurückzuholen.
Ich erzählte Lydia, daß ich Graham, der mehr oder weniger übergeschnappt wirkte, draußen vor dem Motel gesehen hatte.
»Es bleibt einem wohl nichts anderes übrig«, sagte sie, »als die Angelegenheit von ihrer komischen Seite zu betrachten.«
28
G egen acht waren wir unterwegs, unter einer tiefhän genden Wolkendecke. Die Straße erstreckte sich vor uns in zwei parallelen, mit rötlichem Wasser gefüllten Furchen. An einigen Stellen mußten wir überschwemmte Senken durchqueren, aus deren Oberfläche niedrige Büsche auftauchten. Ein Kormoran flog vor uns auf und peitschte das Wasser mit seinen Flügeln. Wir fuhren durch eine Gruppe von Wüsteneichen, die zu den Kasuarinengewächsen gehören und nicht
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