Traumreisende
Gefühl, alt zu sein, schon so stark, dass sie, nachdem sie bei einem Faustkampf zwischen zwei älteren Mädchen vermittelt hatte, mit absoluter Gewissheit wusste, dass ihr Gesicht sich in das einer alten Frau verwandelt hatte. Sie brach die Regeln und betrat ohne Erlaubnis die vordere Eingangshalle. Sie wusste, dass es dort neben dem Mantelständer einen Spiegel gab, und sie musste unbedingt wissen, wie sie aussah. Als sie erkannte, dass ihr Aussehen sich nicht verändert hatte, freute sie sich. Das Gesicht, das ihr entgegenstarrte, war noch immer das einer Sechsjährigen. Ihre Seele schien zu erwachen, als sie erkannte, dass sie so stark fühlen konnte, dass sie zu etwas wurde, was sie allem Augenschein nach nicht war. Sie hatte entdeckt, dass sie in zwei Welten lebte und zwei Menschen war, und das wurde zu einem gehüteten Geheimnis, das ihr für den Rest ihres Lebens gute Dienste leistete.
Im Waisenhaus herrschte ein militärisches Regiment. Die Mädchen wurden angewiesen, gerade und hoch aufgerichtet zu stehen, und mussten ständig marschieren - zum Essen, zu Bett, zur Kirche, zur Schule, überallhin. Sie marschierten hinter geschlossenen Türen, in langen Gängen oder auf dem eingezäunten Grundstück im Freien. Die Armee barfüßiger kleiner Mädchen marschierte gewöhnlich zur Musik, die auf einer aufziehbaren Victrola gespielt wurde. Es herrschte eine Atmosphäre von »Aufstehen, Haltung annehmen, Beeilung, Aufstellung nehmen, Mund halten!«
Für Beatrice war die Kindheit eine Serie von Erinnerungen, die den wirbelnden Rotoren eines Ventilators glichen. Die Schulzimmer, in denen sie die meiste Zeit ihrer Jugendjahre verbrachten, waren langgezogene Räume mit offenen, unverglasten Fenstern auf beiden Seiten. Hölzerne Läden wurden an vorstehende Bretter nach außen gedrückt. Wenn Besucher kamen, war dies stets ein Anlass, einen elektrischen Ventilator herbeizuschaffen, der die warme Luft sanft umrührte. Auch im Speisesaal gab es einen Deckenventilator, der nicht eingeschaltet wurde, wenn kein Gast zum Tee dablieb. Das Leben in der Anstalt war so streng geregelt, dass jeder Tag und jedes Jahr im wesentlichen denselben monotonen Ablauf hatten. Es gab nur ein paar Geschehnisse, die sich Beatrice lebhaft eingeprägt hatten.
In dem Sommer, als sie sechs Jahre alt war, war es extrem heiß. Tagelang wehte kein Lüftchen, es gab keinerlei Linderung der Hitze, als habe Gott im Himmel einen elektrischen Schalter umgelegt und alles Leben zum Stillstand gebracht. Der Himmel blieb blassblau von Horizont zu Horizont; keine einzige Wolke wagte, die makellose Fläche zu durchbrechen. Die Vögel gaben keinen Laut von sich, und der Boden war bereits so trocken, dass er Risse bekommen hatte und sich kleine Höhlen auftaten, in die Beatrice einen Stock hineinwerfen und zusehen konnte, wie er darin verschwand. Schon seit einer Woche waren kein Wurm und kein Käfer mehr ins Freie gekrabbelt, und selbst den Schmeißfliegen schien es zu heiß zu sein, um Beatrice zu belästigen.
Spät am Tag, unmittelbar vor der Glocke, die zum Zubettgehen aufforderte, sah sie zufällig einen alten verbeulten Lieferwagen, der Wasser auf das Grundstück brachte. Er bestand aus einem offenen Führerhaus und einer Ladefläche, und die runde Metalltonne, die das Wasser enthielt, war mit alten Seilen unsicher befestigt. Der Lastwagen war vor dem Bürogebäude geparkt, und niemand bewachte ihn. Sie sah eine Blechtasse, die mit Draht auf einem kleinen Zapfen befestigt war; vermutlich wurde sie von dem Fahrer benutzt, wenn er etwas trinken wollte. Niemand war zu sehen, und mühelos löste Beatrice die Tasse von der metallenen Halterung, hielt sie unter den Hahn und füllte sie. Der erste Schluck schmeckte warm und muffig, war aber dennoch erfrischend, und so trank sie die ganze Tasse leer, dann noch eine, noch eine und dann noch eine. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie meinte, jeder, der ihre Brust anschaute, könne es sehen. Sie erlebte ein ganz neues Gefühl, empfand so etwas wie Macht - zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie hatte es in der Hand, konnte unbegrenzte Mengen Flüssigkeit trinken, alles, wenn sie wollte. Sie hatte nicht das Gefühl, dass das, was sie tat, verboten wäre, da auf der langen »Du darfst nicht«-Liste von Lastwagen mit Wasser nicht die Rede war. Niemand sah sie. Sie wurde nicht ertappt. Sie machte die rostige Tasse wieder fest und schlüpfte kurz vor der Nachtruhe in den Schlafsaal.
Ein paar Stunden später, in der
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