Traumreisende
Fernschule traf sechs Wochen später ein, gerade, als im Haushalt der Willetts eine folgenschwere Entscheidung über Geoffs Zukunft getroffen wurde. Ein amerikanischer Geistlicher, Albert Marshall, und seine Frau Nora besuchten Australien und waren von Reverend Willett nach Sydney geschickt worden, seinen Bruder Howard auf seiner Farm zu besuchen. Die Marshalls hatten erwogen, ein einheimisches Waisenkind zu adoptieren, wollten aber nicht mit einem Säugling reisen. Sofort hatte man an Geoff gedacht. Er war ein ruhiges Kind, selbstgenügsam, machte keine Schwierigkeiten und brauchte eine Ausbildung. Die Willetts und die Marshalls saßen im Salon und diskutierten diese Möglichkeit genau an dem Abend, an dem Irene eine glänzende Beurteilung der vermeintlich von einem Erwachsenen stammenden Zeichnungen erhalten hatte, die sie eingesandt hatte.
Irene rief Geoff in die Küche, um ihm mitzuteilen, die Kunstschule finde, dieser Künstler solle Unterricht erhalten, um sein natürliches Talent weiter zu fördern, und habe ein Geschenk geschickt. Die Schule konnte nicht wissen, dass die Zeichnungen das Werk eines Siebenjährigen waren. Das an Irene gerichtete Geschenk war eine Metallschachtel in bunten Farben, die zehn Farbstifte, einen Pinsel und zehn Näpfchen mit Wasserfarben enthielt. Geoffs Augen wurden so groß wie Hühnereier, als Irene ihm die Schachtel gab und sagte, die gehöre ihm. Begeistert öffnete er sie und starrte auf die leuchtenden Farben und das leere Papier, das Irene ihm anbot. Geoff saß auf seinem Lieblingshocker - eine Untertasse mit Wasser neben sich - und erkundete gerade die Welt der Wasserfarben, als er in den Salon gerufen wurde. Fest hielt er seinen Preis und ersten persönlichen Besitz umklammert, als er langsam in den rottapezierten Raum mit seinen polierten Böden und dickgepolsterten Möbeln ging. Er bewegte sich vorsichtiger, als wenn er sich einer unbekannten Schlange genähert hätte.
Die Marshalls stellten sich vor, und Nora hielt ihn fest an der Schulter, als sie seinen Kopf tätschelte. Als sie fragten, was er da in der Hand hätte, lockerte er widerstrebend den Griff und öffnete den Deckel der Metalldose, um die bunten Juwele vorzuzeigen. Der Preis wurde schnell mit einem »Ach, das ist ja nett, ja, das ist nett« abgetan. Und zu seiner großen Erleichterung wurde er auch bald entlassen. Freda kam ins Waisenhaus, als Beatrice sieben war. Da sie in diesem Jahr der sechste Ankömmling war, erhielt sie einen Namen mit »F«, obwohl sie schon neun war und die ganze Zeit anders geheißen hatte. Von den Regeln der Verwaltung gab es keine Ausnahmen. Freda war langsam, ihr ganzer Körper bewegte sich träge, und sie sprach zögernd und stotternd.
Beatrice war das einzige Mädchen im Haus, das ihr seine Freundschaft anbot. Die beiden entwickelten ein echtes schwesterliches Verhältnis zueinander. Freda war in der Lage, ihre Schulaufgaben zu machen, wenn Beatrice den Stoff immer wieder fleißig mit ihr durchnahm, und so zu vermeiden, durch Essensentzug oder Schläge mit einem Lineal auf die Handflächen bestraft zu werden. Sie waren beide sehr stolz, als Freda es endlich geschafft hatte, etwas auswendig zu lernen. Alle Mädchen mussten für die Erstkommunion die Gebete und die Fragen aus dem Katechismus auswendig lernen. Einmal fragte Beatrice im Unterricht, was der Begriff »Heiliger Geist« bedeute.
»Die Dummheit deiner Freundin färbt auf dich ab«, rief die Nonne, die den Unterricht hielt, ärgerlich und angewidert. »Geh und setz dich in die Halle, bevor du noch jemanden ansteckst.« Der Gang zur Erstkommunion war etwas, das niemals in Frage gestellt wurde. Kirchenregeln und Hausordnungen waren peinlich genau zu befolgen und nicht einen Augenblick lang anzuzweifeln. Freda schaffte es nicht, die Antworten aus dem Katechismus schnell genug aufzusagen, obwohl sie sie gut beherrschte, und so durfte sie Leib und Blut Jesu nicht empfangen. Die Mädchen glaubten, sein toter Körper werde vom Kreuz genommen, und dann werde aus einem Teil davon ein Laib Brot gemacht. Der konnte dann in hauchdünne Waffeln geschnitten und ihnen bei der Erstkommunion vom Priester sanft auf die ausgestreckte Zunge gelegt werden. Bei der täglichen Messe trugen die Mädchen kleine schwarze Schleier auf dem Kopf, aber für die Erstkommunion erhielten sie weiße. Es war eine Demütigung, nach dem Kommunionsalter noch mit einem schwarzen Schleier dazusitzen, aber Freda trug das erniedrigende Kennzeichen mit nur
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