Traumreisende
gelegentlich bebenden Lippen.
Eines Tages entdeckte Beatrice, dass Freda anscheinend singen konnte, ohne zu stottern. Zusammen entwickelten sie eine Methode, bei der Freda lautlos im Kopf Melodien summte, während sie sprach. Obwohl ihre Rede noch immer ab und zu stockte, war sie bald in der Lage, sich direkter und klarer mitzuteilen. Im folgenden Jahr bestand sie die mündliche Prüfung. Zweifellos war es einer der Höhepunkte ihres ganzen Lebens, als sie endlich den weißen Schleier für die Kapelle erworben hatte. Freda unterschied sich im Aussehen von den übrigen Waisenkindern. Sie war groß, wog ein paar Pfund zuviel und hatte glattes rötlichbraunes Haar. Ihre Haut war erheblich heller, und ihre Augen waren sehr grün. Beatrice konnte nie verstehen, warum ihre Freundin vom erwachsenen Personal der Schule so verachtet wurde. Man bezeichnete sie so oft als »die Dumme«, dass die Beschimpfung zu einem Namen wurde, den sie schließlich akzeptierte. Beatrice war der einzige Mensch, der Fredas richtigen Namen benutzte. Freda konnte nicht gut sehen, weder in der Ferne noch in der Nähe. In all den Jahren bei den Barmherzigen Schwestern sah Beatrice niemals, dass ein Kind eine Brille bekam. Brillen galten als zu großer Luxus für Waisenkinder.
Der Zaun rund um das Waisenhaus bestand aus Maschendraht. Man hatte dort große Büsche gepflanzt, die das Metall bald auf beiden Seiten mit dichtem, einige Meter dickem Blattwerk bedeckten. Die Erde in diesem Teil Australiens hatte einen so hohen Mineraliengehalt, dass fast alles wuchs, wenn es genügend Wasser bekam. Das Grün machte den Schulhof hübscher, wenn die Besucher ihn besichtigten. Ansonsten war die Anstalt nahezu ausbruchssicher. Die Barmherzigen Schwestern wagten sich nur selten auf den Schulhof. Sie schienen die direkte Sonne zu meiden. In der Pause begnügten sie sich damit, die Tür aufzuschließen, damit die Schülerinnen in einer Reihe hinausmarschieren konnten.
An einem Augusttag hörte Beatrice in der äußeren Ecke des Hofs ein leises Wimmern. Zusammen mit Freda krabbelte sie unter die Büsche, und sie entdeckten auf der anderen Seite des Zauns einen sandfarbenen Hund. Er hatte eine Schusswunde am Hals und war anscheinend hierher gekrochen, um in Ruhe zu sterben. Die beiden Mädchen sprachen darüber, ob sie einen Erwachsenen holen sollten, damit er dem Tier helfe. Sie kamen aber gemeinsam zu dem Schluss, dass diese den Hund sofort töten würden. Am Nachmittag gelang es Beatrice, in einem Lehrbuch nachzuschlagen und den Hund als wilden Dingo zu identifizieren.
Jedes Mädchen war verantwortlich für einen Blechteller, eine Blechtasse, eine Gabel, einen Löffel und ein Messer. Nach dem Essen stellten sie sich in einer Reihe auf, spülten ihr Gedeck in einem Wasserbehälter, trockneten es ab und stapelten es dann zum weiteren Gebrauch auf einem Tisch. Abfälle waren nicht gestattet. Jede Schülerin aß alles, was auf ihrem Teller war. Wenn einmal etwas übrig blieb, wurde es für die nächste Mahlzeit aufgehoben. An diesem Abend steckten Freda und Beatrice sich ein paar Bröckchen von dem Essen in ihre Taschen. Sie schafften es sogar, eine leere Suppendose zu stibitzen, als sie mit dem Abwaschen der Töpfe und Pfannen an der Reihe waren. Als sie vor dem Schlafengehen noch einmal auf den Hof hinaus durften, stand Freda Wache, und Beatrice stellte die Büchse mit Wasser und das Essen durch die Öffnung im Maschendraht dicht neben den Kopf des Hundes. Das arme Geschöpf rührte sich nicht und gab auch keinen Laut von sich, aber Beatrice bemerkte, dass es noch atmete. Als sie am nächsten Tag nach dem Tier sahen, das sie inzwischen als ihren Patienten betrachteten, war die Büchse umgestoßen worden und das Essen verschwunden. In der Wölbung zwischen den Beinen des wilden Dingos lagen drei neugeborene Junge.
Die Jungen verschlimmerten die Situation noch. Freda und Beatrice beschlossen, sich drei anderen Schülerinnen anzuvertrauen und sie um Hilfe zu bitten, die einen Tag alten Welpen zu versorgen und zu beschützen. Das wurde zu einem großen Abenteuer. Sie schafften es sogar, eine Flasche Jod hinauszuschmuggeln, und Beatrice gelang es, etwas davon in die Schusswunde des Dingos hineinzutröpfeln. Sie mussten die Mutter füttern und tränken, abwechselnd die Geräusche der unruhigen Jungen übertönen und beten, dass die Mutter gegen alle Wahrscheinlichkeit irgendwie lange genug durchhalten würde, um ihren Nachkommen eine Überlebenschance zu geben.
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