Traumreisende
das Kind zeichnen konnte, aber ihr Mann hielt das für Zeitverschwendung. Der Junge solle statt dessen Lesen und Schreiben lernen. Für einen schwarzen Künstler gebe es keinen Platz auf der Welt. An diesem Nachmittag, als Geoff zum fünften Mal nach mehr Papier fragte - »bitte« -, nahm Reverend Marshall den Malkasten, ging zur Reling und warf ihn über Bord. Die bunte Metallschachtel drehte sich in der Sonne und platschte schließlich in den weiten blauen Ozean - Geoffs Welt ging mit ihr unter und sank auf den Grund des Meeres. Die Beziehung zwischen ihm und Reverend Marshall würde sich von diesem Schlag nie mehr erholen.
Der Reverend und seine Frau meinten es gut. Sie sahen die Adoption als etwas an, das jemandem, der sonst Analphabet geblieben wäre, eine Ausbildung und eine Chance bot, aber am wichtigsten war es ihnen, seine Seele zu retten. Sie glaubten, sie retteten Geoff vor einer armseligen Existenz und dem Feuer der Hölle. In Geoffs Augen sah das ganz anders aus. Es war ja offenkundig, dass er nicht dazugehörte. Zu Anfang verstand er nicht, warum seine neuen Eltern ihn nicht zu mögen schienen. Er wusste nicht, dass er anders war. Am dritten Tag auf See wies eine neue Bekannte von Nora auf seine dunkle Haut hin, während alle anderen hell seien. Das war Geoff schon bewusst, aber er fasste das genauso auf wie Größen-und Farbunterschiede in seinen Zeichnungen. Etwas war nicht gut oder schlecht, es war einfach so. An diesem Tag wurde ihm bewusst, dass manchen Leuten die Farbe anscheinend wichtig war. Später in dieser Woche versuchte dieselbe Frau, ihm die Wörter »Mutter«, »Vater«, »Sohn« und »Familie« zu erklären, aber all diese Wörter sagten ihm nichts. Ihre Beschreibung war nicht das, was er erlebte.
Ein paar Tage später kam die Familie in den Vereinigten Staaten an, wo sie von einem Theologiestudenten abgeholt wurde, der den Auftrag hatte, sie nach Hause nach Vermont zu fahren. Einen Tag später hielt der Wagen vor einem kleinen gelben Landhaus, das vorne und hinten von einem Zaun umgeben war. Nora hatte das Haus mit karierten Sesselbezügen und weißen Raffgardinen an allen Fenstern dekoriert. Es war ein hübscher Anblick. Das kleine Haus roch auch gut, weil die hilfreichen Gemeindemitglieder einen Tisch mit Früchten und frischgebackenen Keksen und Muffins gedeckt hatten. Geoff wurde in ein Zimmer geführt, das als Büro und Gästezimmer diente. Man sagte ihm, es werde für ihn hergerichtet. Da er noch nie einen Platz für sich allein gehabt hatte, wusste er nicht, was ihn erwartete, und so war er nicht enttäuscht, als das Zimmer in den folgenden Tagen unverändert blieb. Seine neue Familie und sein neues Zuhause hatten in vieler Hinsicht eine ähnliche Atmosphäre wie die Farm der Willetts. Wieder war er sich selbst überlassen. Er blieb den ganzen Tag im Freien und kam nur zu den Mahlzeiten herein. Oft wurden ihm zum Lunch auch nur ein Sandwich und ein Glas Milch in den Apfelbaum gereicht, wo er hoch oben auf dem dicksten Ast saß und sich in der Nachbarschaft umschaute. Ein-oder zweimal wagte er sich aus dem hintersten Tor hinaus und erforschte die Gasse und die benachbarten Höfe, aber Nora entdeckte ihn da und schimpfte, weil er das Grundstück verlassen hatte. Wie früher fand er wieder Gesellschaft bei den Vögeln; Eichhörnchen und eine streunende Katze wurden weitere Spielgefährten von ihm. Einen Monat später, als seine neue Mutter ihn zum Schulbesuch anmeldete, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Zum ersten Mal hielt sie seine Hand. Dann erklärte sie, ohne ihn anzusehen, der Sekretärin der Grundschule, er sei nicht wirklich ihr Sohn, sondern ein adoptierter Aborigine. Zum ersten Mal hörte er davon, er sei von seinem eigenen Volk und seiner eigenen leiblichen Mutter nicht gewollt und verlassen worden. Nora betonte die Tatsache, dass er nirgends erwünscht gewesen sei. Die Willetts hätten ihn zu sich genommen, und jetzt sorgten sie und ihr Mann für ihn. An diesem Tag begann er, die Frau des Geistlichen statt Ma'am bei ihrem Vornamen - Nora AI nennen. Niemand schien den Unterschied zu bemerken. Reverend Marshall wurde immer mit Sir angeredet. Geoff vergrub die Worte »australischer Aborigine« tief in seinem Gedächtnis. Er empfand Bitterkeit gegenüber seinen leiblichen Eltern. Er glaubte, was man ihm gesagt hatte: Sie hatten ihn bei seiner Geburt abgelehnt.
Zehn Monate nach Geoffs Adoption bekamen die Marshalls einen Sohn, zehn Monate danach einen zweiten Jungen.
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